INTERVIEW


REISEN OHNE WEGZUMÜSSEN

Marvin Chlada im Gespräch mit Florian Günther

 

 

Florian Günther, der mir bisher allem voran als Dichter bekannt war, bat mich um einige begleitende Worte für sein Fotobuch. Ich sagte zu. Doch schon bei der ersten Sichtung des Materials schien es mir reizvoller, Günther selbst zu Wort kommen zu lassen, statt eine weitere, mehr oder weniger flotte Abhandlung zur Theorie und Ästhetik der Fotografie zu liefern. Als ich Günther den Vorschlag zu einem Interview unterbreitete, bestand er auf ein paar Tage Bedenkzeit, da er sich bereits mitten in den Vorbereitungen zu diesem Buch befand, erklärte sich dann aber bereit dazu. Das Gespräch fand an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Mai 2012 in Berlin statt. Am ersten Tag traf ich Günther in der Budike, seinem Stammlokal in Friedrichshain, einem von Mietskasernen geprägten ehemaligen Arbeiterbezirk, in dem Günther seit seiner Geburt im Jahre 1963 lebt, und der sich mehr und mehr zu einem Szeneviertel mausert. Die Budike hatte eben erst geöffnet. Günther saß bereits an seinem Stammplatz, inmitten anderer sich lautstark unterhaltender Gäste und Albert, dem mit einer Thailänderin verheirateten Wirt, den Günther als einen „begnadeten Erzähler mit beträchtlichem schauspielerischen Talent“ schätzt. Günther selbst trinkt sein Bier und blättert lustlos in einem Manuskript, das man ihm für seinen DreckSack, eine Literaturzeitschrift, die er seit 2010 herausgibt, zugeschickt hat. Vor ihm, an den Tresen geschraubt, befindet sich ein zwei Mal acht Zentimeter großes Messingschild mit seinem eingravierten Namen.

 

CHLADA: Wie kommt man denn zu der Ehre? Macht man das nicht nur bei Toten?

GÜNTHER: Vielleicht bin ich ja längst tot.

ALBERT: Na, wie ’ne Leiche hast du jedenfalls schon öfter ausgesehen. – Woher kommst du?

CHLADA: Duisburg. Kann ich ein Bier bekommen?

ALBERT: Klar. Kommt sofort.

GÜNTHER: Wie lange bist du schon hier?

CHLADA: Nicht lange. Ich war nur noch kurz im Hotel.

GÜNTHER: Schon was angesehen?

CHLADA: Nein, nichts.

GÜNTHER: Wenn du willst, können wir ja nachher mal ’ne Runde drehen.

CHLADA: Klar. Warum nicht.

GÜNTHER: Wir verziehen uns mal nach hinten, Albert.

ALBERT: Ja, ich bring euch das Bier …

CHLADA: Viel ist hier ja nicht los, oder? Liegt das an der Tageszeit?

GÜNTHER: Hat doch keiner mehr Geld … Aber ab und an kommen schon noch Leute und essen was. Bodo, der Koch, ist ein echter Maître de Cuisine. Aber sag’s ihm nicht, sonst denkt er, du willst ihn verscheißern.

CHLADA: Schreibst du hier auch?

GÜNTHER: Ach was. Nein, nein. Ich schreibe nur zu Hause. Ich will hier was trinken, mit den Leuten einen Plausch abhalten und sonst gar nichts.

CHLADA: Der Stadtteil hier, Friedrichshain, soll ja jetzt so ’ne Art „Szeneviertel“ sein. Das kann mir in Duisburg-Neudorf zum Glück nicht passieren. So was wie „Szene“ spielt sich in Duisburg lediglich am Innenhafen ab. Alles überschaubar. Alles schick und teuer. Alles unglaublich langweilig. Wie ist das hier? Was hat sich inzwischen verändert?

GÜNTHER: Die Bedeutung des Wortes „Szene“ zum Beispiel, das ja früher einen eher positiven, kreativen Beiklang hatte, heute aber die Kinder, den Anhang reicher, westdeutscher Eliten meint, die hier aus allen Landesteilen einfallen, um sich noch mal so richtig auszutoben, bevor es ans Karrieremachen geht. Ich nenne sie die invasive Spezies, weil sie eigentlich nicht hierher gehören. Aber bis sie das kapiert haben, dauert es natürlich eine Weile. Und inzwischen treiben sie die Mieten hoch.

CHLADA: Warum meinst du, passen sie nicht hier her?

GÜNTHER: Weil das zum übergroßen Teil Provinzler, Landeier sind. Auch im Kopf, im Denken. Das kriegst du mit einem Jahr Großstadt ja nicht raus. Die finden nichts schöner und lustiger, als mit dem Geld ihrer saturierten Eltern Menschen aus ihren Wohnungen und Vierteln zu vertreiben, die da seit Jahrzehnten ihr Zuhause hatten, und dann stolz nach Hause zu schreiben: „Ich bin jetzt Friedrichshainer!“ Prenzlauer Berg haben die reichen Alten geschluckt. Friedrichshain und Kreuzberg werden von den reichen Jungen geschluckt.

CHLADA: Und auch die von dir in zahlreichen Gedichten beschriebenen Originale verschwinden.

GÜNTHER: Richtig, ja. Inzwischen ist es dermaßen schlimm, daß man sich schon freut, wenn man mal einem verlotterten Punk mit offenem Hosenlatz begegnet.

CHLADA: (lacht) Wenn dir in Berlin die Originale ausgehen, komm einfach nach Duisburg. Da gibt’s auch noch ein paar vom alten Schlag, die würden dir sicher gefallen.

GÜNTHER: Ihr Ruhrpott-Typen seit uns alten Ostlern sowieso ziemlich ähnlich, oder täuscht der Eindruck?

CHLADA: Na, ich komm ja ursprünglich aus Esslingen. Ende 1994 hat es mich nach Duisburg verschlagen. Bereut hab ich’s zwar nicht. Allerdings kann der im Pott zur Schau gestellte Lokalpatriotismus mit all der überaus peinlichen Folklore und Nostalgie einem schon auf die Nerven gehen. Der ist so wenig erträglich wie der schwäbische, dem ich einst entkommen wollte. Wohnst du hier in der Nähe?

GÜNTHER: Ja, ich hab ’ne kleine Mansardenwohnung hier gleich um die Ecke. Bin auch nicht weit von hier geboren und zur Schule gegangen. Dieselbe Gegend wie immer. Seit 50 Jahren. Mein Leben lang. Ich hab zwar auch woanders gewohnt, aber immer meine eigenen Buden behalten, um fliehen zu können.

CHLADA: Fliehen? Wovor?

GÜNTHER: Vor den Frauen, mit denen ich zusammen war. Wenn mir – oder ihnen – die Luft zu dick wurde. Das lag im gegenseitigen Interesse. Nichts ist deprimierender, als vor die Tür gesetzt zu werden, wenn man nicht weiß, wohin. Aber im Moment lebe ich allein.

CHLADA: Und schreibst?

GÜNTHER: Und schreibe. Oder seh’ fern. Oder erledige den Abwasch, je nachdem.

CHLADA: Tauchen welche von denen, die hier sitzen, in deinen Texten auf?

GÜNTHER: Ja, klar. Aber nicht immer eins zu eins. Ich will ja auch meinen Spaß haben. (lacht) Deswegen führt es hier auch immer zu einer gewissen Belustigung, wenn ein neues Buch von mir erscheint. Einer von denen, die hier immer saßen, war Willy, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Und der da drüben ist zum Beispiel der „Van Gogh der Budike“1. Und der da mit dem Hund ist „Matze“2. Der unterhält hier ein Stück weiter die Straße runter eine kleine Werkstatt für Pumpen und Schwalben. Im Sommer sitze ich von Zeit zu Zeit vor seiner Werkstatt, trinke was mit ihm und genieße die Sonne.

CHLADA: Schöner Hund.

GÜNTHER: Ja. Herrliches Tier. Ganz friedlich und außergewöhnlich intelligent. Dabei mach’ ich mir gar nichts aus Hunden.

CHLADA: Wer ist das da mit dem Eierlikör?

GÜNTHER: Ein Totschläger, wie er selbst von sich behauptet. Er will als Kind einen Pfaffen erschlagen haben. In Dresden, während des Krieges. Im größten Hunger soll der ihm was weggefressen haben. Da hat der Kleine nach dem Schürhaken gegriffen.

CHLADA: Glaubst du, die Geschichte stimmt?

GÜNTHER: Das interessiert mich gar nicht, denn sie ist gut. Und sie bezeugt – sollte sie tatsächlich stimmen –, daß in jedem ein guter Kern schlummert. (lacht) – Hattest du Zeit, dir die Fotos anzusehen?

CHLADA: Klar! Ein paar davon, nicht viele, kannte ich ja bereits. Und von denen, die mich am meisten interessieren, habe ich mir Kopien gemacht.

GÜNTHER: Woher kanntest du die anderen?

CHLADA: Aus dem DreckSack. Aber laß uns nicht vorgreifen. Laß uns besser mit dir, mit deiner Person beginnen.

GÜNTHER: Aber nur kurz, wenn’s geht, das steht ja alles auch in den Gedichten. Läuft das Ding?

CHLADA: Schon die ganze Zeit. Ich schlage vor, daß wir erstmal chronologisch vorgehen. Wenigstens zum Einstieg. Ich habe mir im Zug und auch gestern schon mal ein paar Stichworte und Fragen notiert … Ist das dein Handy?

GÜNTHER: Ja. Sicher. Moment … Aber ich konnte nicht kommen … Hör mal, ich bin nicht zu Hause, und ich hab jetzt auch keine Zeit. Kannst du nicht ein andermal … Ja, gut. Das eilt nicht. Mach ich. Ja. Wiederseh’n.

CHLADA: Was Wichtiges?

GÜNTHER: Jemand, der mir Geld schuldet und heute aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ein alter Freund. Maler. Nicht sehr erfolgreich, aber besser als die meisten anderen, die ich kenne. Ich wünschte, er wäre bei besserer Gesundheit. Dauernd hat er irgendwas. Aber gut. Das ist jetzt nicht das Thema.

CHLADA: Wollen wir anfangen?

GÜNTHER: Ja, gut, laß uns loslegen. Je schneller wir das hinter uns haben, umso besser.

CHLADA: Das erste, was ich von dir hörte, war: „Das ist ein Berliner Dichter, Fotograf und (Über-)Lebenskünstler.“ Trifft das so zu? Wie würdest du dich bezeichnen wollen?

GÜNTHER: Na, Lebenskünstler trifft es vielleicht nicht so ganz. Aber sicher gehört auch ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit dazu, ein so verpfuschtes Leben wie meins zu führen. Das will ich gar nicht abstreiten. Dichter und Fotograf treffen genauso zu wie eine Handvoll anderer Sachen.

CHLADA: Als da wären?

GÜNTHER: Eisenflechter zum Beispiel, Lagerarbeiter, Buchverkäufer, Grafiker. – Ich habe sogar mal gelesen, ich sei Straßenbahnfahrer gewesen. Das ist natürlich Unsinn. Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat. Vielleicht einer, der dachte, wenn Hartmuth Malorny3 U-Bahnfahrer gewesen ist, muß der Günther Straßenbahn gefahren sein. (lacht)

CHLADA: Das klingt, als hättest du dich so durchgeschlagen müssen, mal hier, mal dort.

GÜNTHER: Nicht mehr als andere, würde ich sagen. Aber ich hatte einen Vorsatz: egal welche Anstellung – wenn ich beginne, alle paar Minuten auf die Uhr zu starren, dann kündige ich. Das war in der DDR gar kein Problem. Arbeit gab es immer und überall, und Leute, die dir einen Tip gaben auch. Meinen ersten Job – ich bin ja gelernter Offsetdrucker – habe ich geschmissen, weil ich mit einer Frau anbändeln wollte.

CHLADA: Du hast gekündigt, um eine Frau zu beeindrucken?

GÜNTHER: Nicht eine. Die, wie ich damals dachte! Zeitungen zu drucken war und ist ein ziemlich stumpfsinniger Job. Und sie zog mich andauernd auf, daß ich mich eh nicht trauen würde, alles hinzuschmeißen und so weiter und so fort. Ich war 18 oder 19, hatte gerade erst ausgelernt und keine Ahnung, was noch alles kommen würde, niemand warf da alles hin. Aber ich war so verliebt in sie, daß mir das alles egal war.

CHLADA: Arbeitete sie im selben Betrieb?

GÜNTHER: Ja, als Buchbinderin, am anderen Ende der Halle.

CHLADA: Und konntest du bei ihr landen?

GÜNTHER: Nicht sofort, aber ein paar Jahre später. Wir haben eine Tochter zusammen, die inzwischen erwachsen ist.

CHLADA: … und mindestens einmal in jedem deiner Bücher vorkommt. Wann hast du mit dem Schreiben angefangen? Wie kam es dazu?

GÜNTHER: Wer schreiben will, schreibt immer. Auch wenn er es noch gar nicht weiß. Aber wann wurde mir das bewußt? Keine Ahnung. Irgendwann in den Siebzigern. Ich war so sechzehn, siebzehn, achtzehn; wohnte nicht mehr bei meinen Eltern, hatte aber noch keine eigene Bleibe. Und ich erinnere mich, daß ich zwischen den Schichten in der Druckerei in den umliegenden Kneipen rumlungerte und mir die Leute ansah. Nachts und nach der Spätschicht schlief ich auf Parkbänken, in Hausfluren oder leerstehenden Wohnungen, die ich aufgebrochen hatte, sogenannte Knastwohnungen, die für Inhaftiere freigehalten wurden, oder bei irgendwelchen Kneipenbekanntschaften im Bett oder auf der Couch, wenn’s ein Mann war … Natürlich war das interessant. Auch wenn es hart und demütigend war, kein eigene, feste Bleibe zu haben und mehr oder weniger auf der Straße zu leben, während man gleichzeitig im Dreischichtsystem arbeitete. Aber ich begann mir Notizen zu machen, Stichwörter auf kleine Zettelchen zu kritzeln, die ich am nächsten Tag nicht mehr entziffern konnte. Der Vorteil eines Schriftstellers gegenüber allen anderen besteht ja darin, daß er Demütigungen in Siege verwandeln kann, indem er darüber schreibt. Und da wollte ich hin.

CHLADA: In den Kneipen. Wie lief das ab? Was waren das für Leute?

GÜNTHER: Ach, die kamen aus allen Schichten der Gesellschaft: Arbeiter, Funktionäre, Künstler, Asoziale, Kriegskrüppel, wenig Frauen, wenn auch mehr als heute, wo es sich kaum noch einer leisten kann, in die Kneipe zu gehen; weshalb sie auch leer sind. Oder zugunsten von Apotheken, Drogeriemärkten und Bankfilialen dicht gemacht haben. Die Leute von damals hocken heute vor der Glotze, trinken Dosenbier und treten ihren Hund.

CHLADA: Was ist der Unterschied von damals zu heute?

GÜNTHER: Na erstmal waren die Kneipen rappelvoll. Immer. Und das teilweise schon am frühen Nachmittag. Du kamst da gar nicht mehr rein, wenn du verpennt hattest. (lacht) Und natürlich waren sie auch ein randvoller Pool an Geschichten, aus dem du endlos schöpfen konntest, auch wenn die mich erstmal gar nicht so interessierten, weil ich meine eigenen Sorgen und Probleme hatte. Im Grunde hockten die Leute zusammen und taten das, was heute Psychologen tun: Sie hörten einander zu oder taten wenigstens so. – Versteh’ mich nicht falsch. Ich will das jetzt gar nicht idealisieren, es gab auch Schattenseiten. Zum Beispiel, daß es nach der Arbeit nicht viel anderes zu tun gab, als Kinder zu zeugen, seine Frau zu verprügeln oder in die Kneipe zu rennen. Dennoch hat das Aussterben dieser Stampen zu einer gigantischen Vereinsamung nicht nur in der sogenannten Unterschicht geführt.

CHLADA: Dieser randvolle Geschichten-Pool, von dem du da sprichst, war also so ’ne Art Inspirationsquelle oder Erfahrungsschatz für dich?

GÜNTHER: Ja, das begann mich zu interessieren. Die hatten ja alle was zu erzählen. Jeder auf seine Weise. Jeder das, was ihn gerade beschäftigte: Alltagskram, Politik, Frauen, Geld, Tod, Arbeit, Urlaub, Wohnungssuche, wo gibt’s Pfirsiche, wo Spargel? Gibt’s überhaupt irgendwo Pfirsiche oder Spargel? Kennt einer einen, der Fernseher repariert? Aber was mich am meisten beeindruckte, waren die Geschichten der Alten, aus dem Berlin der Nachkriegszeit. Ich hatte ja keine feste Freundin und fühlte mich nicht nur nachts sehr einsam. Und diese verschrumpelten alten Säcke tranken ihren Schnaps, lachten meckernd und erzählten dir, wie toll das alles war! Schwarzmarkt! Gladow4! Die vielen Frauen, deren Männer noch in Gefangenschaft oder im Krieg geblieben waren. Die hatten natürlich ihre hungrigen Kinder am Rockzipfel zu hängen, also was sollten sie anderes tun, als für 50 Pfennige die Beine breitzumachen? Und überlebt hatten sie ja auch noch! Da will man’s doch mal krachen lassen! Ich habe diese alten Männer sehr beneidet, um ihre Erlebnisse und das was sie durchgemacht und überlebt hatten, und litt unter dem Gefühl, zu spät geboren worden zu sein. Mitten in ein langweiliges Land. Leider habe ich das meiste davon vergessen. Ich hab immer viel vergessen.

CHLADA: Lag das am Alkohol?

GÜNTHER: Sicher. Aber auch an meinen Depressionen, wie ich heute weiß. Es gehört zum Krankheitsbild. Aber das wußte ich damals noch nicht.

CHLADA: Hast du die immer noch? Bist du in Behandlung?

GÜNTHER: Ja. Du nicht?

CHLADA: (lacht) Nein, noch nicht. Wie war das früher bei dir?

GÜNTHER: Schlimm. Neben einigen anderen Unannehmlichkeiten, wie beispielsweise Angstzuständen jeglicher Art, passierte es, daß ich urplötzlich in tiefste Traurigkeit versank und im nächsten Augenblick an die Decke sprang vor Glück, ohne daß es dafür den geringsten Anlaß gab. Ein ständiges Hoch und Runter. Von Minute zu Minute. Das war natürlich auch für die schlimm und nervig, mit denen ich zu tun hatte, weil sich das keiner erklären konnte. Aber bei weitem am schlimmsten, weil du das auch mit Alkohol nicht wegkriegst, war diese immerwährende Einsamkeit. Die fraß mich wirklich auf. Die machte auch vieles kaputt. Aber dazu kommen wir sicher später noch.

CHLADA: Sprichst du oft darüber?

GÜNTHER: Nein, nur wenn man mich danach fragt. Denn auch wenn ich ganz offen darüber rede, bleibt es natürlich schwer zu erklären, was Antriebsschwäche ist. Warum der Gang zum Bäcker oder auch nur ins Zimmer nebenan zu einem nicht zu bewältigenden Problem werden kann. Du kannst den Leuten Zahnschmerzen erklären, weil die jeder kennt. Aber daß es dir unter Umständen unmöglich ist, die Schuhe zuzubinden oder dein Hemd zuzuknöpfen, versteht kein Mensch. Der beste Satz, der hierzu je geschrieben wurde, der das alles umreißt, stammt von Scott Fitzgerald: „Für eine wirklich von pechschwarzer Nacht umfangene Seele ist es immer drei Uhr morgens.“

CHLADA: Hast du damals an den Tod gedacht?

GÜNTHER: Ja, sicher. Der Tod und ich, wir sind alte Kumpel.

CHLADA: Wie sah das aus, konkret?

GÜNTHER: Konkret sah das so aus, daß ich alle paar Tage zur U-Bahn am Frankfurter Tor, das ist nicht weit von hier, runtergestiegen bin, mich an die Bahnsteigkante gestellt und mir gesagt habe: „Nur ein Schritt, nur ein einziger Schritt, und alles ist vorbei!“

CHLADA: Aber du hast ihn nicht getan.

GÜNTHER: Nein. Ich konnte es nicht. Es war zu leicht und gleichzeitig zu schwer. Ich mußte das alles durchleben.

CHLADA: Und heute?

GÜNTHER: Heute bin ich doch ein ziemlich umgänglicher Mensch, oder findest du nicht?! Aber wer weiß schon, was morgen ist. Ein gewisser Schatten bleibt immer bestehen. Aber der macht auch produktiv.

CHLADA: Inwiefern?

GÜNTHER: Wenn man weiß, daß es jeden Augenblick zu Ende sein kann, wird einem klar, was man noch alles machen wollte, und wie wenig man bisher geschafft hat. Das treibt an.

CHLADA: Macht es dir gar nichts aus, so offen über deine Krankheit zu reden?

GÜNTHER: Darüber denke ich nicht nach. Denn wenn ich darüber nachdächte, wäre ich nicht glaubwürdig dem gegenüber, der das liest oder mir zuhört und sich schon seit Jahren fragt, warum ihm sein Leben wie ein Stein auf der Brust liegt. Und der sich aus naheliegenden Gründen nicht traut, darüber zu sprechen. Mir macht das nichts aus.

 

CHLADA: Laß uns auf deine Fotos zu sprechen kommen. Du hattest dein schlechtes Gedächtnis erwähnt, was ja für einen Autor verheerend sein kann.

GÜNTHER: Ja. Wie viele andere Dinge auch.

CHLADA: Ja, aber was ich wissen wollte: Hast du deshalb angefangen zu fotografieren?

GÜNTHER: Ich hab neulich einen Film mit George Clooney im Fernsehen gesehen, wo er sagt: „Fotos sind was für Leute mit Gedächtnisschwäche.“ Das stimmt. Also läge das nahe. Aber ich habe mir meinen ersten Fotoapparat, eine gebrauchte Praktica MTL 3, erst Anfang der 80er Jahre gekauft. Nach einer langen Odyssee hatte ich Anstellung als Hilfskraft in der Berliner Stadtbibliothek gefunden, wo ich Tausende Schildchen für die Karteikästen schrieb und half, Ausstellungen auf- und abzubauen. Die zwei Kollegen, mit denen ich vorwiegend zu tun hatte, waren deutlich älter als ich und redeten viel und ausgiebig über Kunst und Politik, was mich beides nicht mehr interessierte. Aber ohne es groß zu merken, lernte man dazu und bekam Lust, Dinge auszuprobieren. Jahre später, als ich eine Ausstellung, ich glaube in Quedlinburg hatte, nannte ich sie Notizen, eben weil mir die Fotos auch als Gedächtnisstütze dienten, denn ich schrieb ja nun nichts mehr.

CHLADA: Du hattest das Schreiben gänzlich aufgegeben?

GÜNTHER: Ja. Sechs oder sieben Jahre lang. Bis 1990/91 etwa.

CHLADA: Laß uns dennoch jetzt mal einen Augenblick bei deinen Fotos bleiben. Ich hab mir die kopiert, die mich besonders interessieren. Zum Beispiel dieses hier, Werner mit Holzschwert (S. 24). Erinnere ich mich recht, dann war dieses Bild mal auf einer Titelseite vom DreckSack, der ja optisch einer Tageszeitung nachempfunden ist.

GÜNTHER: … und mich dazu brachte, mich wieder mit meinen Bildern zu beschäftigen. Denn ich wollte und will, daß die Fotos unabhängig vom übrigen Inhalt des Blattes ihre eigene Geschichte erzählen. Daß mir das einigermaßen gelingt, bestätigen mir die Reaktionen der Leute, die mich erst auf den Gedanken brachten, dieses Fotobuch hier zu machen.

CHLADA: Ein, wie ich meine, längst überfälliges Unternehmen, das immerhin zehn Jahre deiner Arbeit dokumentiert. Du plünderst doch aber für aktuelle Projekte nicht nur dein Archiv, sondern fotografierst nach wie vor, oder?

GÜNTHER: Ja, klar. Aber wirklich nur noch in eigener Sache. Eine winzige Kamera, die in jede Jackentasche paßt, habe ich fast immer dabei. So sind auch die Cover von 11 Uhr morgens5 und Mir kann keiner6 entstanden.

CHLADA: Und wer ist nun dieser Werner? Was hat es mit dem Foto auf sich?

GÜNTHER: Es war so: Ich wohnte in einer aus Zimmer und Küche bestehenden und – wie ich sehr viel später erfuhr – auch baupolizeilich gesperrten Parterrebude, in der Kopernikusstraße hier in Berlin-Friedrichshain, die im Sommer angenehm kühl, im Winter aber kaum zu beheizen war. Der Wind pfiff durch alle Ritzen. Die Wände waren dünn, das Außenklo im Winter unbenutzbar. Man fror die meiste Zeit und schlief, wenn man allein war, im Mantel. Und Werner, ein Messie, der über meine Bruchbude nur müde lächeln konnte, und über den sich das halbe Haus ob des Gestanks, der aus seiner Wohnung drang, beschwerte, war einer meiner Nachbarn, der ab und an vorbeikam, um ein Bier mit mir zu trinken. Ich besuchte ihn nur ein einziges Mal, denn der Gestank in seiner Wohnung war wirklich infernalisch! Dabei entstand das Foto mit dem Schwert.

CHLADA: Kann ich gut nachvollziehen. Als Zivi mußte ich mal die Wohnung einer verstorbenen Messie-Oma mit ausräumen. Das wäre ohne Mund- und Nasenschutz für keinen der Beteiligten möglich gewesen. Die alte Dame hatte tatsächlich alles stapelweise gelagert: Kot, Zeitungen, Müll, selbst ihre toten Katzen hat sie gesammelt. Gab’s noch andere solcher Orte? Orte, von denen du heute sagen würdest, da muß ich nicht nochmal hin?

GÜNTHER: (lacht) Da fällt mir so einiges ein …

CHLADA: Zum Beispiel?

GÜNTHER: Die eine oder andere Ausnüchterungszelle. Eine ziemlich dunkle Ecke im Hafenviertel von Manaus, wo ich fast über die Klinge gesprungen wäre. Die DDR, mein Elternhaus …

CHLADA: Nicht so schnell, bitte! Was heißt hier fast über die Klinge gesprungen?

GÜNTHER: Bei einem Überfall. Ich hatte die Taschen voller Dollars, und um mich rum herrschte bitterste Armut. Aber das kann ich auch später noch erzählen, wenn du willst.

CHLADA: Auf alle Fälle! Aber warum folgt auf die Ausnüchterungszelle gleich die DDR und das Elternhaus? Hast du deine Kinder- und Jugendtage als eine Art Knast empfunden?

GÜNTHER: Bei Kapuscinski, den ich gerade lese, gibt es eine Stelle, wo er von einem alten afrikanischen Bauern berichtet, der in seinem ganzen Leben nicht weiter kam, als bis zum nächsten Dorf. Empfand der das als ein Leben im Knast? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß es Leute gab und gibt, die die DDR aus guten Gründen als Knast empfunden haben. Für mich war sie das genausowenig wie meine Kindheit.

CHLADA: Warum nicht?

GÜNTHER: Aus räumlichen Gründen. Knast ist ein Haus, eine Zelle, ein Hof, von mir aus auch ein umzäunter Acker. Ich aber hatte sehr viel mehr Bewegungsspielraum in der DDR. Und ich behaupte, andere hätten den genauso haben können, wenn sie es nur gewollt hätten.

CHLADA: Woran denkst du, wenn du an deine Kindheit denkst?

GÜNTHER: An die Angst davor, nach Hause zu kommen.

CHLADA: Was war der Grund?

GÜNTHER: Die Erziehungsmethoden meines Vaters, der immer fand, daß ich meine Zeit schon in der Schule verplemperte, sie nicht nutzte, um voranzukommen. Aber ich wollte nicht vorankommen, sondern durchkommen. Das hat er nie kapiert.

CHLADA: Was war er von Beruf?

GÜNTHER: Arzt.

CHLADA: Und deine Mutter?

GÜNTHER: Auch. Was für die beiden insofern von Vorteil war, als sie sich jeden Tag am Abendbrottisch über ihre Arbeit unterhalten konnten, während ich stumm daneben saß. Wenn sie sich gestritten hatten, schlief mein Vater manchmal in der Klinik. Dort hatte er ein kleines Dienstzimmer mit einem Schrank, einem Schreibtisch, einer Liege und jeder Menge Urkunden an den Wänden. Nach ein paar Tagen, wenn der Pulverdampf verzogen war, schickte meine Mutter mich los, um ihn zu holen. Was mir gefiel, denn ich durfte alleine mit dem 40er Bus fahren. Ich setzte mich ans Fenster und sah mir an, wie die Stadt vorüberzog und all diese schönen Frauen in ihren luftigen Kleidern. Und ich wunderte mich, daß mein Vater nur die eine hatte, wo es doch soviele gab!

CHLADA: Im Ernst?

GÜNTHER: Ja. Ich hab ihn das sogar mal gefragt.

CHLADA: Und was hat er dir geantwortet?

GÜNTHER: Hab ich vergessen. Aber ich vermute mal, daß er nichts gesagt hat, was ihn später in die Bredouille hätte bringen können. (lacht)

CHLADA: Wie war das in der Schule? Welche Erinnerungen hast du daran?

GÜNTHER: Meine erste Erinnerung, wenn man mal von der Einschulung absieht, ist, daß ich genau nach einer Woche keine Lust mehr hatte – das glaubt mir kein Mensch, aber es war wirklich so! – und mich die ganze Zeit gefragt habe, wie ich die kommenden 10 Jahre in diesem trostlosen Scheißhaus überstehen sollte. Schon das Gebäude, ein dunkelroter Backsteinbau, schüchterte einen ein. Es war die reine Zeitverschwendung.

CHLADA: Und die Lehrer? Gab es da einen Lehrer, der dir imponiert hat?

GÜNTHER: Es gab mal einen Polizisten, der mir imponiert hat, weil er wußte, was bei mir zu Hause los war und mich deshalb nie persönlich bei meinem Vater abgab. Weil er trotz allem an mich glaubte. Ich habe ihm vor kurzem – man traut es sich kaum zu sagen – ein Gedicht gewidmet, und jede Zeile darin stimmt7. Lehrer sind ja für gewöhnlich dümmer als Polizisten. Die liefern dich immer ab und aus. Notfalls, indem sie dir einen Brief an deine Eltern mitgeben, der mit jedem Schritt, den du deinem Zuhause näher kommst, schwerer und schwerer wird. Schwerer als Blei. Schwerer als ein Flugzeug. Aber du gibst ihn trotzdem ab, weil du weißt, es wird rauskommen und alles nur noch schlimmer machen.

CHLADA: Was ist mit Freunden?

GÜNTHER: Na, Freunde hat man immer, wenn man jung ist. Ich hatte auch unabhängig von den Lehrern nichts mit der Schule am Hut und strolchte lieber mit meinen Kumpels aus kinderreichen Familien herum – und deren frühreifen Schwestern und Cousinen. Der Vater meines besten Freundes saß wegen Mordes im Bau. Er hatte seine Frau, die Mutter meines Freundes, aus Eifersucht erstochen. Sie war Frisöse und schnippelte gerade vor sich hin, als er durch die Tür geschossen kam. Mein Freund, der erst im Heim gelandet war, wohnte nun bei seiner Großmutter, die gerne mal den Bügel schwang, weil wir klauten oder in den damals noch vorhandenen Kriegsruinen herumkletterten und uns die Knochen aufschlugen. – Und dann gab es das Expresso, eine Selbstbedienungskneipe, in der die wirklich harten Jungs herumlungerten. Die hatten teilweise schon gesessen, waren tätowiert und trugen ihre speckigen Haare sehr viel länger als wir, die wir noch unter der Fuchtel unserer Eltern standen. Denen, so schien es wenigs­tens, war alles egal. Und ihre Weiber waren Königinnen, die Perücken trugen und mit hohen, keifenden Stimmen redeten, immer ’ne Zigarette im Mundwinkel klebend. Sie redeten natürlich nur Müll, aber das wußten wir damals noch nicht. Denn wir hatten keine Ohren, sondern nur AUGEN, AUGEN, AUGEN! Und es dauerte nicht lange, bis ich den Jungs mein Taschengeld über den Tisch schob, damit sie mir ein Bier mitbrachten.

CHLADA: Wie alt warst du da?

GÜNTHER: Dreizehn.

CHLADA: Und du hattest keine Angst vor denen?

GÜNTHER: Und ob ich die hatte! (lacht) Aber einer von denen war meistens der Bruder oder Vater oder die Mutter eines Freundes. Und obwohl sie dich natürlich herablassend behandelten – wir waren ja nichts weiter als ein paar kleine Pisser in deren Augen – ließen sie dich ab und an ein bißchen bei sich sitzen. Weh taten die sich nur untereinander. Als ich eines Tages von der Schule kam, erlebte ich mit, wie zwei der Frauen sich prügelten. Die eine lag unter der anderen auf dem Boden. Ihre Perücke war ihr vom Kopf gerissen worden und ihr Rock war hochgerutscht, so daß man ihren Schlüpfer sah. Die Bullen haben nur gelacht. Und ich hab zugesehen, daß ich nach Hause und ins Badezimmer kam …

CHLADA: Wie hat dich das alles geprägt?

GÜNTHER: Es gab meinem Leben eine Richtung. Denn natürlich war das alles interessanter als sich über seine Schulbücher zu beugen oder Medizin zu studieren. Und vieles kam dadurch auch früher. Der erste Kuß, der erste Sex, die erste Schlägerei ...

CHLADA: Die erste Zigarette …

GÜNTHER: Ja.

CHLADA: Was hältst du davon, mal ein bißchen frische Luft schnappen zu gehen.

GÜNTHER: Ist mir recht. – Albert! Wir drehen mal ’ne Runde. Ich komme nachher noch mal rein und zahle. Oder morgen.

ALBERT: Alles klar. Macht mal. Viel Spaß!

FRAU AUF DER STRASSE: Hast ’n du schon morgens um 8 Uhr in der Kneipe zu suchen?!

GÜNTHER: Das ist Marga. Eine Seele von Mensch, die dafür sorgt, daß die Budike so ein sauberes Schmuckstück bleibt, wie sie ist. Hat mich neulich früh beim Türken rauskommen seh’n, der 24 Stunden aufhat. Ich konnte nicht schlafen, und alles war zum Teufel …

CHLADA: Aber es stört dich nicht, daß sie so einfach mal über die Straße ruft?

GÜNTHER: Auch was. Ich freu mich über jeden, der mich anspricht und nicht in einer Uniform steckt. Es ist das Gegenteil von früher, wo ich niemanden kannte, und mich auch keiner kennenlernen wollte. Leider mangelt es der Gegend an Freaks. So daß ich das selbst erledigen muß. (lacht) Mit dem Einarmigen da drüben bei der Vietnamesin bin ich übrigens zur Schule gegangen.

CHLADA: Wie hat er den Arm verloren?

GÜNTHER: Besoffen aus einer fahrenden S-Bahn gefallen. Die genauen Umstände habe ich vergessen. Aber ich erinnere mich noch, daß er eigentlich schon tot war, und die Ärzte ihn trotzdem wieder zusammenflickten.

CHLADA: Weil wir nun gerade aus der Kneipe kommen: Trinkst du eigentlich nur Bier oder nimmst du auch mal andere Drogen, Gras zum Beispiel?

GÜNTHER: Nein. Ich werf’ ja meine Psychopillen ein und bin viel zu sehr Säufer, um gegen den Grundsatz zu verstoßen, den Janis Joplin erst aufgestellt, dann aber gebrochen hat: „Wer Drogen nimmt, muß verrückt sein, wenn er sich doch mit Southern-Comfort-Whiskey zudröhnen kann!“ Ein Jammer, daß sie einen anderen Weg gegangen ist.

CHLADA: Ja. Was würdest du sagen, wenn deine Tochter Rockmusikerin werden wollte?

GÜNTHER: Meine Tochter? Ich würde sie daran erinnern, daß sie keinen Alkohol verträgt.

CHLADA: Wir sprachen vorhin von Werner, dem Messie aus deiner alten Wohngegend. Wie kam es zu dem Foto mit dem Trinker in der S-Bahn (S. 22)?

GÜNTHER: Oh, das war früh am Morgen, erinnere ich mich. Ich war schon ein paar Stunden unterwegs und lief durch die Stadt, um ein paar Aufnahmen von den noch menschenleeren Straßen zu machen. Auf dem Nachhauseweg stieß ich auf diesen Mann, der seine Flasche mit mir teilte. Ich glaube, da war noch ein anderer dabei. Müßte ich mir noch mal die Kontakte ansehen.

CHLADA: War das ein Obdachloser?

GÜNTHER: Nein, aber das war ein lustiger Vogel, wenn ich mich recht erinnere. Obdachlose wie bei euch im Westen gab’s ja in der DDR eher selten.

CHLADA: Ich hab mal mit einem zusammengesessen. Das muß Ende 1988 gewesen sein. Meine damalige Freundin hatte Verwandtschaft in Jugoslawien, die wollten wir besuchen. Und während sie die Bus- und Bahnverbindungen in einem Reisebüro am Bahnhof checkte, wartete ich draußen, weil ich rauchen wollte und ein Bier dabei hatte. Gegenüber vom Reisebüro saß ein Obdachloser auf dem Boden, mit dem Rücken an eine Häuserwand gelehnt. Ein ehemaliger Lehrer, der die Schnauze voll und alles hingeschmissen hatte, wie sich später rausstellte. Ich bot ihm einen Schluck von meinem Bier an, und er erzählte mir, warum er seit einigen Jahren auf der Straße lebt. Kurz nachdem wir dann aus Jugoslawien zurückgekommen sind, habe ich erfahren, daß der Mann in der Zwischenzeit gestorben war, unter einer Brücke – erfroren.

GÜNTHER: Hm … Tragisch. Aber ich kenne das auch. Es sind immer dieselben Geschichten …

CHLADA: Wie machst du deine Erfahrungen? Mußt du alles selbst durchleben, oder bedienst du dich auch mal bei anderen?

GÜNTHER: Trifft beides zu. Denn auch wenn es stimmt, daß man nicht in der Pfanne gelegen haben muß, um über ein Schnitzel schreiben zu können, kann es ja andererseits nicht schaden, daß man, wenn man beispielsweise über eine Pfanne schreiben will, sie schon ein paarmal um die Ohren gekriegt hat.

CHLADA: Bukowski sagte mal, wenn er gewußt hätte, daß so viele Weiber auf Gedichte bzw. Dichter abfahren, dann hätte er schon viel früher mit dem Schreiben angefangen. Wie ist das bei Dir? Gibt’s Günther-Groupies? Was geht da nach so ’ner Lesung? Gibt’s Briefe, Anrufe?

GÜNTHER: (lacht) Nur von Verrückten. Mir fällt eine Lesung in Halle ein, wo ich einer der anwesenden Damen versehentlich, und vermutlich angetrunken – nüchtern würde ich mich das gar nicht trauen – meine Telefonnummer zugesteckt habe. Sie sah umwerfend aus. Groß, schlank, ein wunderbares Weib. Aber sie verbrauchte Heerscharen von Anwälten, weil sie unentwegt mit irgendwelchen Leuten und Ämtern im Clinch lag, die sie mit Beschwerdebriefen eindeckte. Und natürlich ging das ungeheuer ins Geld. Deshalb sagte sie mir eines Tages am Telefon: „Weißt du, Florian, ich hab mir überlegt, ich studiere jetzt Jura. So schwer kann das ja wohl nicht sein. Und man spart viel Geld!“

CHLADA: Hast du versucht, es ihr auszureden?

GÜNTHER: (lacht) Der konnte man nichts ausreden. Die war vollkommen übergeschnappt und befand sich mit allem und jedem auf Kriegsfuß. Und warum sich nicht auch weiterbilden? Ist doch ’ne prima Sache!

CHLADA: Wie lange ging das?

GÜNTHER: Monatelang. In denen sie ihren Ärger bei mir ablud, indem sie mich drei oder viermal die Woche anrief und mich mit den irrwitzigsten Geschichten versorgte … Ich hab das irgendwann nicht mehr ausgehalten, den Hörer weggelegt und nur noch jede halbe Stunde gehorcht, ob sie noch dran ist. Das hat prima funktioniert, weil man eh nicht dazwischenkam, wenn sie erstmal loslegte. In meinem letzten oder vorletzten Buch gibt es ein Gedicht über sie, es heißt Sabbelbacke8. Und ich hoffe inständig, daß sie es nicht irgendwann liest. Sonst sind meine Tage gezählt! (lacht laut)

CHLADA: Hast du sie mal fotografiert?

GÜNTHER: Neiiin, um Gottes willen. Nicht auch noch ’n Foto!

CHLADA: Bei der ersten Sichtung der Fotos für diesen Band, da hat es mir irgendwie die Tante Werrmann (S. 190/191) angetan. Ihre Haltung, ihr Blick haben mich ein wenig an meine Oma erinnert, und ich dachte mir, daß die beiden bestimmt von ähnlichem Schlag gewesen sein müssen. Aber vielleicht irre ich mich da. Was kannst du mir über Tante Werrmann erzählen?

GÜNTHER: Daß sie sehr wichtig für mich war. Sie wohnte am Stadtrand in einer kleinen Laube und züchtete die herrlichsten Rosen. Drinnen an den Wänden hingen überall Bilder ihres Mannes, eines Künstlers, der sich irgendwann aus dem Staub gemacht hatte. Das und anderes hat sie nicht verbittert werden lassen, wie man auf den Fotos hoffent­lich sieht. Ich kann mich nicht erinnern, je ein lautes Wort von ihr gehört zu haben. Sie war eine kleine, bescheidene Frau, die sich ihr Leben lang für andere abgerackert hat und fünfmal die Woche zu uns kam. Aber als mein Alter wieder mal über mich herfiel, nahm sie all ihren Mut zusammen und warf sich schützend vor mich. Davon hat sie noch viele Jahre gesprochen: „Weißt du noch, Florichen? Damals, als ich …“ Sie war erschrocken über ihren eigenen Mut! Ich verdanke ihr sehr viel Liebe, und ihr Tod macht mich noch immer dermaßen traurig, daß ich mich nicht dazu durchringen kann, Blumen auf ihr Grab zu legen.

 

CHLADA: Alle Spiele, sagt Jim Morrison, enthalten den Gedanken des Todes.

GÜNTHER: Ist das auf seinem Mist gewachsen?

CHLADA: Keine Ahnung, stammt aus The Lords. Spielt das eine Rolle?

GÜNTHER: Nein, aber ich kenne einen anderen Ausspruch von ihm: „Ich trinke, damit ich mit Arschlöchern sprechen kann. Einschließlich meiner selbst.“ (lacht)

CHLADA: Auf alle Fälle hat der Morrison kein Geheimnis daraus gemacht, wie schwer es ihm gefallen ist, was auf’s Papier zu bringen. Wie ist das bei dir?

GÜNTHER: Nicht viel anders. Man fragt sich immer wieder, warum man sich das antut.

CHLADA: Was, meinst du, ist das schwerste am Schreiben?

GÜNTHER: Nie Geld in der Tasche zu haben. Einfach und ausdauernd zu sein. Sich von seinen Gefühlen zu befreien.

CHLADA: Du sagst, nie Geld in der Tasche zu haben. Manche verdienen Millionen.

GÜNTHER: Ja, aber sie lernen ja nichts daraus. (lacht)

CHLADA: Wie lange arbeitest du an einem Gedicht?

GÜNTHER: Ganz unterschiedlich. Manchmal fünf Minuten, manchmal fünf Jahre …

CHLADA: Fünf Jahre?

GÜNTHER: … oder länger. Du hast da so ’ne Zeile, die nirgends reinpaßt. Aber du hängst an ihr und schleppst sie solange mit dir herum, bis du eine Verwendung für sie hast. Und gerade diese Stellen sind dann oft die flüssigsten, die scheinbar am leichtesten geschriebenen, obwohl du jahrelang an ihren rumgedoktort hast. – Insofern ist es auch ein zweischneidiges Schwert, wenn mir Leser aus Freude über eines meiner Bücher sagen, sie hätten es in einem Zug durchgelesen. Denn was bedeutet das im Klartext? Daß sie an keiner Stelle innegehalten haben, um das Gelesene zu überdenken, Für und Wider abzuwägen; das Buch nicht ein einziges Mal in die Ecke geworfen und verärgert wieder aufgehoben zu haben. Das braucht aber ein Buch, glaube ich, sonst ist es nichts wert. Und was sind denn schon fünf Jahre!

CHLADA: Wie geht es bei deinen Lesungen zu?

GÜNTHER: (lacht) Kommt drauf an, wen man vor sich hat. Ich erinnere mich an eine Lesung in Leipzig, zu der niemand gekommen war, bis draußen ein Reisebus hielt und eine muntere Truppe von Rentnern hereinströmte. Das war wirklich so. Keine Ahnung, warum. Jedenfalls las ich und blickte ab und an über die grauhaarigen Köpfe meiner Zuhörer, die zusammengenommen aussahen wie ein Baumwollfeld. Und als ich fertig war: donnernder Applaus! Dabei hatte ich auch die Sauereien vorgelesen, was schon ein gewisses Maß an Überwindung kostet, bei diesem Auditorium.

CHLADA: Warum hast du sie nicht einfach weggelassen?

GÜNTHER: Das geht nicht.

CHLADA: Warum?

GÜNTHER: Weil sie Teil des Ganzen sind. Sie wegzulassen wäre unaufrichtig und hieße, sich wegzuducken, bevor auch nur jemand daran denkt, ein faules Ei zu werfen. Das wäre nicht nur feige, sondern auch dumm. Und wie gesagt, die Alten haben sich amüsiert wie Bolle.

CHLADA: Ist es dir schon mal passiert, daß jemand aus Wut oder Protest deine Lesung verlassen hat?

GÜNTHER: Mir sind schon die erstaunlichsten Dinge passiert. Aber meistens aus dem falschen Grund.

CHLADA: Wie das?

GÜNTHER: Die Leute vergessen gern, daß ich nur der Überbringer schlechter Nachrichten bin. Und daß ich nicht dafür zuständig oder verantwortlich zu machen bin, daß die Welt ist, wie sie ist. Mir scheint, daß gerade ältere, die im Osten sozialisiert worden sind, ihre Probleme damit haben. Die wollten die D-Mark und Nivea und Coca-Cola, und daß sie und ihre Kinder und Enkel reisen können, aber bitte ohne Bankräuber, Junkies, Obdachlose und verlogene Politiker. Und natürlich finden die schrecklich, was ich beschreibe. Denn manchmal ist es ja auch schrecklich!

CHLADA: Was gab es noch?

GÜNTHER: Einmal, und das hat mir sehr gefallen, hat eine junge Frau ein so unglaubliches Spektakel abgezogen, daß mir später keiner glauben wollte, daß ich sie nicht bezahlt hatte. Denn die war bühnenreif.

CHLADA: Was ist das passiert? Erzähl.

GÜNTHER: Ich las in irgendeiner Berliner Kneipe. Weiß gar nicht mehr genau, wo. Ich glaube, im Goldenen Hahn in Kreuzberg. Und ich kam zum Ende und las ein Gedicht9, das in seinen letzten Zeilen an die Kinder erinnert, deren Eltern sich über Prag und Ungarn aus dem Staub gemacht und sie allein zurückgelassen hatten, denn so was gab’s natürlich; wahrscheinlich sogar tausendfach, ohne daß je einer dafür belangt wurde. Es ging ja um Freiheit und Demokratie, und die Leute wollten ja nur ihr Leben selbst in die Hand nehmen; so das Übliche eben. Na, und das schmeck­­­te ihr nicht. Sie sprang auf und schrie mir aus nächster Nähe und mit jeder Menge Spucke ins Gesicht, das wäre alles Lüge, und was ich mir dächte, so was zu behaupten und so weiter und so weiter. Die Frau war vollkommen außer sich. Die kam gar nicht wieder runter.

CHLADA: Vielleicht war sie in irgendeiner Weise betroffen?

GÜNTHER: Ich weiß es nicht. Ich hab das auch noch nie erzählt. Aber das war wirklich bemerkenswert, weil man sich als Autor ja immer wünscht, daß die Texte Reaktionen hervorrufen, selbst wenn es letztlich keine Rolle spielt. Hast du eigentlich schon mal hier gelesen?

CHLADA: Meine letzte Lesung in Berlin – weißt du, wie lange das schon her ist?

GÜNTHER: Woher sollte ich?

CHLADA: Vor zehn oder elf Jahren war das. Den Laden gibt’s schon gar nicht mehr: Juliettes Literatursalon.

GÜNTHER: Noch nie gehört. Wo war der?

CHLADA: Glaube, im Scheunenviertel. Ein Buchladen mit Galerie. Nicht gerade groß. Aber auch nicht zu klein. Genau richtig für die Präsentation von Klangmaschine damals.

GÜNTHER: Ist das ein Buch?

CHLADA: Ja. In erster Linie geht es da um eine Dekonstruktion der Pop- und Medienkultur mittels „Theorie(ver)dichtung“ – so hatten wir das genannt. Ziemlich experimentell, das Ganze. Wir waren zu viert. Zwei Autoren, ein DJ und ein Percussionist: Jörg Berendsen alias Raul Rossi, mit dem ich auch Tausend Tüten geschrieben habe. Jörg und ich wurden später in einem kleinen Zimmer über dem Buchladen untergebracht; die anderen beiden sind ins Hotel, als sie die verwichsten Bettlaken sahen, die sie uns da für die Übernachtung zur Verfügung gestellt hatten. Trotzdem, war ein toller Laden, hatte ’ne richtig gute Auswahl an Literatur. Aber ein verdammt schnödes Publikum.

GÜNTHER: Wie schnöde ein Publikum ist, hat auch mit seiner Größe zu tun. Sind es wenige Leute oder sind es viele. Je mehr, desto besser. Die schaukeln sich dann gegenseitig hoch, während ein kleiner Kreis an Zuhörern sich oft nicht einmal traut zu husten oder sich zu kratzen. Deshalb sage ich jedem, der beabsichtigt, zu einer meiner Lesungen zu kommen: Trink vorher einen Schnaps oder zwei! Sie müssen sich ja nicht besaufen, aber dann sind sie schon entkrampft, und ich muß das nicht auch noch machen und hab von Anfang an meinen Spaß. So weit das überhaupt möglich ist, bei so einer Tätigkeit.

CHLADA: Liest du nicht gern?

GÜNTHER: Nein. Die Leute denken ja immer, man hätte Spaß daran, nur weil man es einigermaßen kann und ja auch will, daß das Publikum auf seine Kosten kommt, wie Nutten, die sich ein gewisses Berufsethos bewahrt haben. In Wahrheit will man es aber nur hinter sich bringen.

CHLADA: Es gehört dazu …

GÜNTHER: Ja. Es gehört dazu. Bukowski, der ja ein großer Humorist war, hat mal gesagt, er würde sofort aufhören zu lesen, wenn seine Bücher ihm genügend Geld einbrächten. Ich hab das immer gut verstanden und würde es genauso machen.

CHLADA: Hat er sich daran gehalten?

GÜNTHER: Soviel ich weiß, ja.

CHLADA: Was bedeutet dir eigentlich Humor?

GÜNTHER: Steht das nicht in meinen Büchern?

CHLADA: Doch. Aber die haben wir jetzt ja nicht hier.

GÜNTHER: Es gibt eigentlich nur einen einzigen Schriftsteller, den ich verehre, obwohl er nur höchst selten mal so etwas wie Humor aufblitzen läßt, und das ist Cormac McCarthy, und der ist ein Gigant. Ansonsten gilt der Satz: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Denn da steckt das alles drin. Es gibt keinen Humor ohne Verzweiflung. Und es gibt keinen Kummer, der nicht auch zum Lachen ist; sieh dir doch nur die jüdischen Witze an – genial und nicht zu über­­­­bie­ten! Das Problem in Deutschland ist allerdings, daß hier Humor permanent mit Witzigkeit verwechselt wird. Das ist dann der Humor der Blöden.

CHLADA: Sind deine Texte eher erotisch oder doch mehr pornographisch?

GÜNTHER: Eher schweinisch, würde ich sagen, und das nur hier und da. Überhaupt, pornographisch nur in dem Sinne, daß ich mich mit Zuständen befasse, die ich für dermaßen obszön halte, daß sie einen Terminus verlangen, der sich nicht die Schuhe auszieht, bevor er in die gute Stube tritt.

CHLADA: Bis heute sind sieben Gedichtbände von dir erschienen, der achte kommt im nächsten Jahr. Prosa ist nicht so dein Ding?

GÜNTHER: Ich muß nicht 50 Seiten schreiben, wenn ich dasselbe in drei, vier Zeilen unterbringen kann. Aber ich will mich gar nicht wegducken, denn es gibt nun mal Autoren, die zehn Seiten damit füllen können, dir „guten Tag“ zu sagen. Und es gibt Leute wie mich, die, wenn eine Sache gesagt ist, zum nächsten Thema übergehen.

CHLADA: Aber bestimmte Themen wiederholen sich.

GÜNTHER: Ja, weil sie einen in Abständen oder Etappen immer mal wieder beschäftigen. Oder weil es einfach Spaß macht, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Tod wäre so ein Beispiel, Liebe oder der Mangel an Liebe. Hinzu kommt, daß mir, seit ich nicht mehr rauche, auch das Sitzfleisch fehlt für Prosa.

CHLADA: Wäre das Schreiben nicht wichtiger als nicht zu rauchen?

GÜNTHER: Ich finde, es ist wichtiger zu leben.

CHLADA: Aber ich weiß, daß du dich an Romanen versucht hast …

GÜNTHER: Ja. Allein an dem ersten habe ich sechs Jahre lang gesessen, bis mir klar wurde, daß das alles Mist war, was ich da schrieb. Schund. Unlesbar. Nicht das Papier wert, auf dem es steht.

CHLADA: Gibt’s den noch irgendwo?

GÜNTHER: Nein, nur die Kisten mit meinen handschriftlichen Notizen, die ich aus kalligraphischen Gründen aufbewahre. Für mich sind das Zeichnungen, die ich mich scheue wegzuwerfen. Einzig mein dritter und letzter Roman existiert noch, aber der ist es auch nicht wert, veröffentlich zu werden.

CHLADA: Hat den mal jemand gelesen?

GÜNTHER: Zwei, drei Leute.

CHLADA: Und was haben die gesagt?

GÜNTHER: Daß sie ihn gut finden, aber das hat nichts zu sagen. – Guck mal, die Perle da drüben!

CHLADA: Wo?

GÜNTHER: Da drüben an der Ampel. Doller Hut! – Und ich häng hier mit dir herum. Nur weil du keine Lust hattest, was zu den Fotos zu schreiben.

CHLADA: Du wirst es überleben. Und wir kommen auch noch ausführlich auf die Fotos zu sprechen. Aber vorher interessiert mich noch, ob dein Tagesablauf damals anders war als heute?

GÜNTHER: (lacht) Das kann man wohl sagen. Jemand, der Romane schreibt, lebt ja eigentlich wie ein Beamter, eine Nonne. Während der Lyriker die Sau rauslassen kann. Gedichte kann man überall, zu jeder Zeit schreiben. Ganz egal, wann du aufstehst. Du mußt es nur tun.

CHLADA: Was bedeutet Alkohol für einen Schriftsteller? Die Liste trinkfester Dichter ist ja bekanntlich lang …

GÜNTHER: Daß die Hemmschwelle sinkt und die Geselligkeit gefördert wird. Schreiben ist, wie du weißt, eine einsame Geschichte. Man sondert sich ab, macht sich rar. Aber man kann sich nicht die ganze Zeit einbunkern, sonst erlebt man nichts. Hinzu kommen Selbstbewußtsein, Selbstsicherheit, Verlust der Angst davor, abgewiesen zu werden, wenn man trinkt. Aber das gilt für jeden einigermaßen talentierten Suffke.

CHLADA: Trinkst du, wenn du schreibst?

GÜNTHER: Nein. Ich trinke, wenn ich recherchiere. Beim Schreiben muß ich nüchtern sein.

CHLADA: Wie lange dauert so eine „Recherche“?

GÜNTHER: Das ist ganz unterschiedlich. Wichtig ist, während der Recherche, nicht zu vergessen, daß man eigentlich schreiben will und nicht umgekehrt. Sonst kann man es irgendwann nicht mehr.

CHLADA: Ich hatte Falk, einem Bekannten aus Düsseldorf, der sich für deine Sachen interessiert, mal dein Hörbuch Schlechte Aussichten10 mitgegeben. Nachdem er die CD gehört hatte, schrieb er mir ein paar Zeilen dazu. Er meint, daß sich da zwischen dem ganzen Dreck, den Schlägen und dem Suff immer auch das Glück verstecken würde. Was ist wichtiger, Glück oder Leid?

GÜNTHER: Für Glück ist das Fernsehen zuständig und die Schlagerindustrie. Mir reicht es, unglücklich zu sein.

 CHLADA: Dann lag der gute Falk also völlig falsch?

GÜNTHER: Vielleicht nicht völlig, aber Glück ist einfach nicht das richtige Wort, glaube ich. Was mir aber gefällt, ist die Möglichkeit, daß dein Freund Recht hat und nicht ich, denn das spricht für die Vielschichtigkeit der Texte. Ansonsten gilt der Satz von Jünger: „Wer sich kommentiert, geht unter sein Niveau.“

 

Am darauffolgenden Tag waren wir in Mehmets Shisha Bar verabredet. Zwei Vietnamesinnen aus dem Massagesalon gegenüber fütterten die Spielautomaten. Günther sieht ihnen dabei zu. Vor sich einen Wodka.

 

CHLADA: Bin ich zu spät?

GÜNTHER: Ach was. Ich hab mich nicht gelangweilt. Setzt dich. Mir ist heut nicht nach rumlatschen.

CHLADA: Wie lange wartest du schon?

GÜNTHER: Weißt ich nicht. Mehmet?

MEHMET: Ja?

GÜNTHER: Seit wann bin ich hier.

MEHMET: Seit 7 Uhr ungefähr.

GÜNTHER: Ich konnte wieder nicht schlafen, es ist furchtbar. Ich bin grade mal für ein paar Stunden weggenickt.

CHLADA: Was machst du, wenn du nicht schlafen kannst?

GÜNTHER: Rumlaufen. Fernsehen. Alles mögliche. – Wußtest du, daß sich der Mond Jahr für Jahr um 3,2 Zentimeter von der Erde entfernt?

CHLADA: Nein. Woher hast du das?

GÜNTHER: Kam heut Nacht im Fernsehen.

CHLADA: Ich habe mal wo gelesen, daß er sich entfernen soll, aber wie weit genau jährlich, das hätte ich jetzt nicht sagen können.

GÜNTHER: Mir war immer so, als seien es 6 Zentimeter. Aber anscheinend hat sich das geändert. Auf nix ist mehr Verlaß.

CHLADA: Man kann ja mal die angegebene Entfernung von der Erde zum Mond im aktuellen Brockhaus vergleichen mit den Angaben im Brockhaus von vor 20 Jahren.

GÜNTHER: Selbst der ist uns inzwischen leid … Willst du was trinken?

CHLADA: Erstmal nicht. Wir sollten auch gleich weitermachen.

GÜNTHER: Paßt mir gut. Ich hab heut nicht viel Zeit. Heute Morgen kam ein wichtiger Anruf von jemandem, der mir mein Bettgestell reparieren will. Alles geht zum Teufel. Und nun macht auch noch der Mond schlapp … Meinst du, daß mir was einfällt? Mir fehlen Stunden an Schlaf.

CHLADA: Das wird schon gehen. Aber heute kommst du mir nicht so leicht davon wie gestern.

GÜNTHER: Wieso? Was meinst du?

CHLADA: Wir hätten noch weitermachen können, nach deinem Jünger-Zitat.

GÜNTHER: Na, für mich war das o.k. so. Und schau mal, was du gestern noch alles für Leute kennengelernt hast. Ich hab Jahre dafür gebraucht, mich an die kleine dicke Ramona ranzusägen, und dich hätte sie am liebsten gleich in ihr Handtäschchen gesteckt.

CHLADA: Aber die war nicht mein Fall.

GÜNTHER: Als ob es darauf ankäme … Hast du ’ne Zigarette für mich?

CHLADA: Du rauchst doch gar nicht.

GÜNTHER: Ja, stimmt. Ich bin vollkommen von der Rolle …

CHLADA: Weißt du noch, wann du aufgehört hast?

GÜNTHER: Mit dem Rauchen? Keine Ahnung. Schätze mal, so vor sechs, sieben Jahren.

CHLADA: Hast du viel geraucht?

GÜNTHER: Am Ende waren es drei Schachteln am Tag.

CHLADA: Drei Schachteln? Respekt! Welche Marke war das?

GÜNTHER: Karo. Das waren filterlose Zigaretten hier im Osten. Ziemlich stark, aber billig. Guter Stoff, gutes Kraut. Weiß der Teufel, was da alles drin war.

CHLADA: Wann hast du damit angefangen?

GÜNTHER: Beim Militär. Es gab Kneipen, da durftest du die gar nicht rauchen, weil sie so gestunken haben. Aber in Schönwalde bei Berlin gab es zum Beispiel eine, in der mich der Wirt als einzigen Karo rauchen ließ, weil ich ein Techtelmechtel mit der jungen, erlebnishungrigen Tochter des Ortsbürgermeisters hatte, aber das führt jetzt glaube ich zu weit … Das war ein lustiger Typ, so’n kleiner Napoleon, weißt du. „Der Igel“, das bezog sich auf meinen Haarschnitt, „darf Karo rauchen. Aber wehe, hier steckt sich noch einer so eine an!“

CHLADA: Was habt ihr da gemacht?

GÜNTHER: Das war ganz lustig. Wir bauten da ’ne Holzbrücke und besserten unser mehr als mageres Salär damit auf, daß wir wegsahen, wenn sich die Bauern und Laubenpieper aus der Umgebung an unserem Material vergriffen. Davon gibt es sogar Fotos. Auf einem sieht du mich ganz entspannt mit einem Bauern plaudern, der neben sich einen Handkarren voller Bohlen und Kanthölzern zu stehen hat. Es gab ja den Begriff „sozialistische Hilfe“, und das war eben meine Auslegung davon. – Später habe ich dann, wie alle anderen, mit dieser parfümierten Westscheiße angefangen. Damit gibst du dir ja dann den Rest, das ging dann irgendwann nicht mehr …

CHLADA: Was war das für eine Einheit? Pioniere?

GÜNTHER: Ja, das war ein Brückenbauregiment, das bei Seelow stationiert war – ich nehme an, du hast schon mal von den Seelower Höhen gehört, von der unvorstellbaren Schlacht dort am Kriegsende. Aber die meiste Zeit war das wie auf Montage. Wir mußten hart ran, aber wir haben wenigstens nicht sinnlos in der Gegend rumgeballert. Vieles, was mit Bauen zu tun hat, habe ich da gelehnt, und für die LPG’en war unsere Arbeit oft von unschätzbarem, jedenfalls nützlichem Wert.

CHLADA: Klingt ja paradiesisch.

GÜNTHER: (lacht) Der Anfang war hart, weil ich schwer an der Flasche hing, als sie mich einzogen. Später aber, nach dem Entzug, der ziemlich heftig war, störte mich das alles gar nicht mehr, und ich war sogar ganz froh über diese Entwicklung. Du gewöhnst dich ein, wirst zu einem Teil der Herde. Funktionierst. Machst, was man dir befiehlt, lehnst dich nur dann auf, wenn es unumgänglich ist. Mir hat gefallen, daß man sein Gehirn mit gutem Gewissen abschalten konnte, denn es spielte keine Rolle, was du dachtest oder wolltest. Man kam herum, brach das Herz der Mähdrescherfahrerin und wollte gar nicht mehr nach Hause. Eine herrliche Zeit. Aber es gab natürlich auch Unfälle und andere schlimme Dinge, Tote, über die ich jetzt nicht reden will. Na, jedenfalls fing ich da zu rauchen an.

CHLADA: Warum hast du nicht einfach versucht, weniger zu rauchen?

GÜNTHER: Das kann ich nicht. Bei mit gibt’s nur hopp oder topp. So’n bißchen, in der Mitte, zur Hälfte, in Maßen geht bei mir nicht. Ich kann auch nicht weniger oder in Maßen trinken oder lieben oder ficken. Entweder gar nicht oder richtig.

CHLADA: Die Tochter von Brautigan, Ianthe, schreibt in ihren Erinnerungen, daß sie literweise Jack Daniels in den Ausguß gekippt hat, wenn ihr Vater aus’m Haus war, um ihn so am Trinken zu hindern. Der schnallte das aber nie. Wenn er zurückkam, dann war er meist so blau, daß er dachte, die Flaschen seien leer, weil er sie bereits ausgetrunken hat. Also bestellte er gleich die doppelte Menge an Whiskey wieder nach.

 GÜNTHER: Ja, das funktioniert so nicht. Die einzigen Male, wo das bei mir geklappt hat, waren, als ich zur Armee kam, von heut’ auf morgen und auf diese Weise ganz brutal entwöhnt zu werden. Und das nächste Mal 1994. Ich war am Ende der Fahnenstange angelangt und nicht besonders traurig darüber; endlich ging es vorbei, ich mußte nur so weitermachen. Und plötzlich klingelt das Telefon: „Papa …?“ Ich hatte Freunde, die schwer auf Drogen und deshalb in Behandlung waren. Einen von denen traf ich, und er erzählte mir von seiner Psychiaterin. Ich ging da hin, und sie sagte: „Ich helfe Ihnen, wenn Sie die nächsten drei Wochen trocken bleiben“, – was hart war, denn ich hatte noch einen Fotojob in Marseille für das Basler Magazin. Ich seh’ mich da noch stehen, umgeben von Armut. Die Sonne schien, das Meer glitzerte, aber alles war nur Nacht. Und ich sagte mir, wenn du das hier ohne Flachmann schaffst, schaffst du alles. Die Ärztin, ich schulde ihr ewigen Dank, hat mir geholfen, wie du siehst. Sonst wäre ich heute nicht mehr unter den Lebenden. – Und sie hätte ein paar Bücher weniger. (lacht)

CHLADA: Gefallen ihr deine Sachen? Kann sie was damit anfangen?

GÜNTHER: Ich nehme mal an, sie liest sie als das, was sie sind: Die Ergüsse eines Irren!

CHLADA: Deine Leserschaft wächst stetig.

GÜNTHER: Wer sagt das?

CHLADA: Das ist mein Eindruck. Auch werden deine Sachen inzwischen an der Uni im Rahmen literaturwissenschaftlicher Seminare diskutiert, die erste Doktorarbeit ist ebenfalls in Arbeit. Das ist schon eine ganze Menge, wenn man bedenkt, daß du die meisten deiner Bücher in Eigenregie gestaltet, herausgegeben und unter die Leute gebracht hast. Wo würdest du dich in dem ganzen bundesdeutschen Kulturbetrieb verorten wollen? Ist das klassischer Underground?

GÜNTHER: Ach du lieber Himmel! Weiß ich nicht. Und wenn ich ehrlich bin, ist mir das auch wurscht. Manchmal kommt es mir so vor, als würde sich jeder, der keinen Verleger, keinen Galeristen, keinen Produzenten, keinen Journalisten hat, der ihn hoch tippt, und keine Frau, die ihn über Wasser hält, dem Underground zuordnen, auch wenn er die spießigste Scheiße produziert, die man sich nur vorstellen kann. Und wenn er dann doch aus der Versenkung geholt wird, was ja vorkommt, wenn der Zeitgeist und bestimmte materielle Interessen übereinstimmen, und dieselben Sachen macht wie vorher, heißt es plötzlich, der ehemalige Undergroundkünstler Soundso. Ich kann damit nichts anfangen, denn ich hatte weder mit der einen noch der anderen Richtung jemals viel am Hut, weil mich Menschen interessieren, soweit das meine Arbeit erfordert, und nicht irgendwelche Strömungen. Sieh dir doch den Großteil der ehemaligen mehr oder weniger talentierten DDR-Undergroundkünstler an. Die waren vor 1989 im Westen durchaus erfolgreich, weil sie diesen Widerspruchsgeist und oppositionellen Anstrich mitbrachten. Dann kam die Wende, und sie sind in wenigen Jahren durchgereicht worden. Man brauchte sie nicht mehr, hatte keine Verwendung mehr für sie. Denn jetzt auf einmal richtete sich ja ihr Widerspruchsgeist, so er überhaupt noch oder je vorhanden war, gegen die Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Und dafür hatte man sie schließlich nicht heim ins Reich geholt. – Sind die jetzt also wieder Underground? Keine Ahnung. Bist du Underground?

CHLADA: Inzwischen wohl eher Background, Florian. Denke, das ist der beste Ort, um jemanden in den Arsch zu treten. Doch mal ganz subjektiv: Wie unterschied sich der Literaturbetrieb in der DDR von dem in der BRD? Welche Erfahrungen hast du da gemacht?

GÜNTHER: Gar keine.

CHLADA: Weil dir das Horden-Gen fehlt, wie du mal geschrieben hast?

GÜNTHER: Möglicherweise. Aber ich weiß wirklich nichts dazu zu sagen. Ich war nie Teil irgendeines Literaturbetriebs.

CHLADA: Aus Arroganz?

GÜNTHER: Nenn es, wie du willst. Daß wir zwei hier so schön sitzen und plaudern und auf diese entzückenden kleinen Ärsche da drüben schielen, hat damit zu tun, daß ich mein eigenes Ding mache und mich nicht darum schere, was die anderen so treiben.

CHLADA: Hat dich schon mal einer als „elitär“ oder „arrogant“ tituliert?

GÜNTHER: Nee. Aber als frauenfeindlich! Und das waren durch die Bank weg Männer. Frauen, die ja in der Regel sehr gut auf sich selbst aufpassen können, sind da viel entspannter. Die wissen ganz genau, wie bestimmte Textpassagen einzuordnen sind. Die lachen das einfach weg. Aber daß diese weichgespülten Pappnasen nicht mal merken, daß sie die Frauen, für die sie sich glauben in die Bresche schlagen zu müssen, entmündigen mit ihrem vorauseilenden Gehorsam, ist schon putzig. Aber gut. Ich hab damit kein Problem. Ärger fördert die Durchblutung.

CHLADA: Und das fehlende Horden-Gen? Was bedeutet das im Klartext?

GÜNTHER: Wenn alle das gleiche machen, interessiert es mich nicht mehr. Wenn alle feiern, stehe ich allein an meinem Fenster und lausche einer Frau, die singend in der Badewanne sitzt. Ich kann und will mich weder anpassen, noch neige ich zu überbordender Geselligkeit. Es ist doch so, daß das Hirnschmalz abnimmt, je mehr Leute sich in einem Raum befinden.

CHLADA: Ja, da muß man aufpassen. In Italien sagen sie, ein Dummkopf findet immer einen anderen Dummkopf, der ihn bewundert. Apropos Italien. Hier hab’ ich ein paar Fotos aus Venedig von dir. Gab’s einen besonderen Grund für die Reise dorthin?

GÜNTHER: Na, ich hatte natürlich Nachholbedarf, wie alle DDR’ler damals …

CHLADA: Mir fällt zu Venedig immer die Ponte delle Tette ein, die Busen-Brücke, wo die Nutten einst per Gesetz oben ohne rumstehen mußten, um öffentlich zu demonstrieren, daß da ja keine Transen, Schwuchteln oder sonst was mit bei sind. Bist du dort gewesen? Interessierst du dich für historische Orte dieser Art?

GÜNTHER: Dieser hätte mich interessiert. Aber ich überlege immer noch, warum ich überhaupt in Venedig war … Ich glaube, es ging um einen Gebrauchtwagen, den sich ein Freund (S. 171) von mir zugelegt hatte. Ein russisches Fabrikat, ganz billig. Und da es ja nun möglich war, sich was anzusehen, sind wir ein paar Wochen durch die Toskana gegurkt. Ich erinnere mich, daß wir außer in Venedig auch in Siena, Pisa und in Ravenna waren, wo Dante begraben liegt. Die Fotos, auf die du wahrscheinlich anspielst (S. 166-183), sind damals da entstanden, ja. Wo genau befand sich diese Brücke?

CHLADA: Im Stadtteil San Polo. Burroughs spielt in Naked Lunch im Zusammenhang mit der „Operation All Out“ auf diese Brücke und ihre Geschichte an. Die nach langer Fahrt inzwischen schwul gewordenen Seeleute sollen bei ihrer Rückkehr durch den Anblick eines Bataillons draller, barbusiger Dirnen wieder umgedreht werden.

GÜNTHER: Schlau! Hat es funktioniert?

CHLADA: Doch nicht in einem Roman von Burroughs! Nein! (lacht) Da fällt mir ein: Hast Du gewußt, daß in der ersten Anthologie deutschsprachiger Pop- und Beatpoeten weder eine Frau, noch ein bekennender Schwuler mit einem Beitrag vertreten waren? Alles gestandene, heterosexuelle Kerle.

GÜNTHER: Wie heißt der Band?

CHLADA: Super Garde hieß der. Kam 1969 raus. Mit Texten von Brinkmann, Chotjewitz, Salzinger und – wenn ich nicht irre – Wondratschek. Kennst Du das Buch?

GÜNTHER: Nein. Nie von gehört.

CHLADA: Da war im Anhang so ein Fragebogen drin, zum Ausklappen. Die Autoren wurden gefragt, welche Musik sie hören, welche Bücher sie lesen, wie ihre Glückzahl lautet, mit welcher Schauspielerin sie gerne mal vögeln würden, was für ’ne Art von Sex sie überhaupt favorisieren und wie oft sie es im Monat treiben. Welche Art von Sex wird von dir bevorzugt?

GÜNTHER: Sage ich dir, wenn du das Band ausgeschaltet hast, ich hab schon so genügend Ärger … Aber erzähl doch mal, was der Brinkmann geantwortet hat.

CHLADA: Passiv. Aktiv. Tittenfick … Sinngemäß.

GÜNTHER: (lacht) Wußtest du, daß er sich immer mit Nicolas Born in den Haaren hatte? Der war viel stärker als er und hat immer gesagt, er solle doch mal kommen, wenn er sich traut. Aber das war ihm dann wohl doch zu heiß. Brinkmann war sicher der bedeutendere Dichter. Aber der Born war vielleicht der bessere Mensch; ich weiß es nicht …

CHLADA: Und aus den Reihen der Reichen und Schönen? Welche der Damen würde dich da reizen?

GÜNTHER: Keine Ahnung. Ich finde es im Gegenteil immer erstaunlich, wie häßlich diese Leute sind, oder sich machen lassen, mit Hilfe dieser überteuerten OPs, die es da gibt. Das würde ich diesen Schicksen für viel weniger machen. ’Ne geschwollene Oberlippe – dauert ’ne Sekunde, und ich mach es für die Hälfte! Ich war neulich beim Arzt wegen diesem verfluchten Tinnitus, der mich jetzt schon seit Monaten peinigt. Und was sich da so in den Wartestühlen gerekelt hat, war einfach unglaublich. Ganz normale Frauen. Sekretärinnen, Kellnerinnen, Nutten … Aber gut. Lassen wir das. Wen hat Brinkmann – jetzt bleiben wir mal bei dem – vögeln wollen?

CHLADA: Elisabeth Taylor.

GÜNTHER: Elisabeth Taylor? So was sitzt doch in jedem Penny-Markt hinter der Kasse!

CHLADA: Du betonst doch in deinen Gedichten, daß gerade dort die interessantesten Frauen zu finden sind. In einem Gedicht11 hast du ’ne Kassiererin gar mal als Star bezeichnet.

GÜNTHER: Ja, es ist oft genug nur eine Frage von – auch unverdientem – Glück, ob du hinter einer Kasse sitzt oder von der Kinoleinwand runterstrahlst. Bei dem Arzt, den ich vorhin schon erwähnte, stand ich plötzlich mit einer sehr bekannten deutschen Sportlerin im Fahrstuhl, die ich, wie die meisten, nur aus dem Fernsehen kannte. Und ich war entsetzt, wie sie in Wirklichkeit aussah. Voller Pickel. Klein. Käsige Haut. Die hatte nicht die Spur von einem Star, dabei hatte sie jede Menge Medaillen gewonnen. – Aber worum es mir in diesem Gedicht eigentlich ging, was mich stört und regelrecht abstößt, ist diese würdevolle Aura, mit der sich Künstler gern umgeben. Dieses Gehabe, als wäre Kunst zu machen ehrenvoller, als ein Klosett zu putzen. Ich mag nüchterne Frauen, die sagen: „Vorhin da auf der Lesung durftest du den dicken Max markieren, aber jetzt ist auch wieder gut.“ So was gefällt mir.

CHLADA: Erzähl mir bitte etwas mehr über dein Verhältnis zu Frauen, über deine Beziehungen. Woran sind die gescheitert? Welche sind gelungen?

GÜNTHER: In letzter Zeit?

CHLADA: Nein, überhaupt.

GÜNTHER: Das will ich eigentlich nicht beantworten. Steht doch auch alles in meinen Büchern. Kann man ja nachlesen.

CHLADA: Vieles von dem, was wir hier besprechen, steht auch in deinen Büchern. Trotzdem reden wir darüber.

GÜNTHER: Ja, aber was soll ich dazu sagen? Sie sind an allem möglichen gescheitert. Und ich fürchte, es lag allzuoft an mir. Ich hab’s verpfuscht, weil ich auch mal allein sein wollte, denn zum Glück kann ich das inzwischen. Aber es bringt mir nichts als Ärger und Schwierigkeiten ein. Deshalb lebe ich allein und schnuppere nur gelegentlich, und wenn es nicht mehr anders geht, an der einen oder anderen Rose.

CHLADA: Also keine Frau oder Freundin momentan?

GÜNTHER: Nein, nichts festes.

CHLADA: Bist du eifersüchtig?

GÜNTHER: Nicht mehr als andere, würde ich sagen. Oder doch … ja. Doch. Ziemlich.

CHLADA: Was tust du, wenn du eifersüchtig bist?

GÜNTHER: Ich saufe wie ein Loch. Verliere die Kontrolle. Mach mich zum Hampelmann …

CHLADA: Und wirst aggressiv?

GÜNTHER: Ach was. Sieh mich doch an! Ich bin klein und schüchtern. Kaum zu sehen. Wem sollte ich was tun?

CHLADA: Klein, schüchtern und ordnungsliebend …

GÜNTHER: Wie?

CHLADA: Das hast du mir mal gesagt.

GÜNTHER: Aber ordnungsliebend trifft es eigentlich nicht so genau. Richtig ist, daß ich leicht den Überblick verliere. Chaos und Unordnung bei anderen gefällt mir aber. Ich seh’ mich um und denke, warum kannst du nicht so leben? Ist doch viel gemütlicher! Ein Beispiel hierfür ist ein alter Freund von mir (S. 193), der in einem Meer von Büchern lebt. Wenn ich zu ihm fahre, um was nachzuschlagen, sagt er: „Mußt du mal in diesem Stapel da hinten unterm Fenster nachsehen, oder in der Kiste da drüben bei den leeren Flaschen …“ Und da ist das Buch dann auch. Die ganze Wohnung, Bücher bis zu Decke. Selbst beim Scheißen kannst du in Justin blättern oder in Churchills Geschichte des Zweiten Weltkriegs schmökern. Aber er weiß immer ganz genau, wo welches Buch zu finden ist, auch wenn er es seit Jahren nicht in der Hand gehabt hat. „Wo war noch mal der Lorca?“ – „Da oben, neben dem Kaktus.“ Ich würde wahnsinnig werden. Aber in meiner Ordnung würde er sich vermutlich genausowenig zurechtfinden wie ich mich in seiner.

CHLADA: Bist du ein Spießer?

GÜNTHER: Hoffentlich nicht. Aber wenn doch, dann ist es halt so. Umhauen würde mich das nicht.

CHLADA: Woran erkennt man eigentlich einen Spießer? Was meinst du?

GÜNTHER: Da fällt mir spontan die Todesstrafe ein. Leute, die die Todesstrafe für Kriminelle fordern oder befürworten, sind ganz sicher Spießer, weil sie glauben, dadurch würde die alte Ordnung wiederhergestellt. Ein Spießer giert nach Regeln wie nach der Luft zum Atmen. Bloß keine Veränderung.

CHLADA: Und du? Bist du grundsätzlich gegen die Todesstrafe?

GÜNTHER: Na ja. Ich wüßte schon ein paar, die ich nur zu gern über die Klinge springen lassen würde. Aber auf mich hört ja keiner …

CHLADA: Um der Gerechtigkeit willen?

GÜNTHER: Um der Hygiene willen.

CHLADA: Das fordert der Houellebecq auch, die Frage aber ist doch: Würde etwas besser dadurch?

GÜNTHER: Ach was. Natürlich bliebe alles beim Alten. Hinzu kommt ja, daß es eh immer die falschen erwischt. Das wird ja schon im ganz normalen Strafvollzug sichtbar. 70 Prozent aller Strafgefangenen in Deutschland sitzen wegen Drogendelikten ein: Schmuggel, Diebstahl, Prostitution, alles was damit zusammenhängt. Deshalb werden Drogen auch nicht legalisiert. Denn wenn man es täte, wären die Gefängnisse leer und böten Platz für diejenigen, die da wirklich reingehören … Hast du das von den privatisierten Gefängnissen in Kalifornien gehört?

CHLADA: Kommt drauf an, was genau du in diesem Zusammenhang meinst! Ich hab ja mal was über die Privatisierung der Knäste in Heterotopie und Erfahrung geschrieben.

GÜNTHER: Ehrlich? Wußte ich gar nicht. Soll ich es trotzdem zu Ende erzählen?

CHLADA Klar! Ist doch ein ungeheuer aktuelles Thema!

 GÜNTHER: Na, der Schwarzenegger wollte doch als Gouverneur Marihuana legalisieren, weil das Milliarden an Steuereinnahmen gebracht hätte. Und weißt du, wer am lautesten protestiert hat? Die Besitzer der aus Haushaltsgründen privatisierten Gefängnisse, weil sie befürchten mußten, nicht mehr ausgelastet zu sein.

CHLADA: Straftaten als Geschäft. Mord für bare Münze.

GÜNTHER: Ja. Knäste, die sich rechnen wie Hotels.

CHLADA: Steht uns das auch bevor?

GÜNTHER: Ich würde es nicht ausschließen. Aber ich hoffe, sie lassen sich solange Zeit damit, bis es uns nicht mehr betrifft. (lacht)

CHLADA: Gewalt und Kriminalität spielen auch in deinen Gedichten eine herausragende Rolle. Morde, Schlägereien, Jugendkriminalität … Auch von Nutten und ihren Zuhältern ist häufig die Rede. Warst du oft im Bordell?

GÜNTHER: Ja, sehr oft.

CHLADA: Als Freier? Oder auch aus anderen Gründen?

GÜNTHER: Nein, nur als Freier. Aber das ging erst nach der Wende richtig los, als ich begann, mich umzusehen in Westberlin. All die Lichter. Die Gerüche. Frauen soviel du wolltest, und alles für ein paar lächerliche Scheinchen! Es war wie reisen ohne wegzumüssen …

CHLADA: Hast du mit den Frauen auch geredet, oder ging es immer nur um das eine?

GÜNTHER: Nein, deren Lebensumstände haben mich am Anfang schon noch interessiert. Nicht die von allen, die kannst du dir gar nicht alle anhören, ohne daß es tierisch ins Geld geht. Aber die von den Frauen, mit denen ich öfter verkehrte. Das hat mich ungeheuer fasziniert. Da wurde die Vögelei schon fast zur Nebensache.

CHLADA: Gab es in der DDR keine Freudenhäuser?

GÜNTHER: Nicht daß ich wüßte. Aber es gab natürlich Frauen, die sich diesem Berufszweig nicht gänzlich verschlossen. Ein Freund von mir, ein Musiker, der eine einigermaßen vorzeigbare Wohnung hier ganz in der Nähe und natürlich mit Telefonanschluß hatte, hat gutes Geld damit verdient, sie an zwei Damen des Gewerbes stundenweise zu vermieten, wann immer Bedarf bestand. Ich seh’ ihn noch vor mir, wie er mit dem Staubsauger rumrennt, und dabei seine Pan-Plastiken umkurvt. „In einer Stunde müssen wir verschwunden sein, dann kommen die Mädels!“ Der ist nie arbeiten gegangen, obwohl er nicht nur drei Kinder hatte, sondern auch viel Geld in Tonstudios verbrannte, denn sein Talent war eher durchschnittlich.

CHLADA: Kanntest du selbst auch Huren?

GÜNTHER: Ich war mal kurzzeitig mit einer zusammen, die, wenn sie es auch nicht mochte, das man sie zu drängend darauf ansprach, mehrmals in der Woche in der Lounge vom Hotel Metropol an der Friedrichstraße herumhing, wo viele Westdeutsche abstiegen. Aber was ich mich immer gefragt habe, war, warum man sie gewähren ließ. Denn es war offensichtlich, was sie da tat, auf wen sie wartete und mit wem sie im Fahrstuhl verschwand.

CHLADA: Sie kooperierte mit der Stasi …

GÜNTHER: Nehme ich jedenfalls an. Muß aber nicht sein, vielleicht bestach sie auch nur das Personal. Aber wie gesagt, sie sprach nicht gern darüber, und warum sollte sie auch? Mir war das vollkommen schnuppe, solange sie mich nicht darben ließ.

CHLADA: Möglicherweise eine Stasi-Nutte …

GÜNTHER: Nein, nein, nein! Also wirklich! Was heißt denn Stasi-Nutte? Ihr Westdeutschen seid immer so schnell mit euren selbstgerechten Etiketten zur Hand! Das war ’ne junge, aufgeweckte, höchst attraktive Frau, die sich gesagt hat, warum soll ich mich mit den doofen Aluchips abgeben, wenn ich auch die Westmark haben kann? Völlig apolitisch. Aber daß sie die Ohren aufhielt, war ziemlich sicher die Voraussetzung dafür, daß man sie gewähren ließ. Jedenfalls kann ich mir das anders nicht erklären. Und was schadet es auch, den einen oder anderen schmerbäuchigen Vertreter für Unterlegscheiben anzuzapfen, der seine übellaunige Olle im Ruhrpott betrügt.

CHLADA: Dennoch erinnert mich die Story ein wenig an eine Schlagzeile aus ’nem Boulevardblatt, die ich mal für eine Collage in Alles Pop? benutzt habe: „Mit diesem Kamera-BH spionierten Stasi-Ladys.“ Der BH hatte Körbchengröße C. Zwischen den Körbchen ’ne 200 Gramm leichte, schlecht getarnte Spezialkamera.

GÜNTHER: Ach, das ist doch alles Scheiße …

CHLADA: (lacht) Wieso? Von mir aus dürfen alle Agentinnen wie Chesty Morgan in Double Agent 73 ausgestattet sein, dann erkennt man sie wenigstens gleich.

GÜNTHER: (lacht) Ist das Russ Meyer?

CHLADA: Nein, nein! Aber fast! Von Doris Wishman ist der, dem weiblichen Meyer! Hierzulande ist der Film unter dem Titel Teuflische Brüste 2 vermarktet worden.

GÜNTHER: Sag bloß, du bist ein Tittenfetischist!

CHLADA: (lacht) „Sin Tetas no hay paraíso!“ Kolumbianisches Sprichwort.

GÜNTHER: Geht das auch auf deutsch?

CHLADA: „Ohne Titten kein Paradies.“ Wie dem auch sei, Robert Anton Wilson schreibt in The Book of the Breast, daß nicht Männer, die auf große Brüste stehen Fetischisten sind. Männer, die auf einen kleinen Busen stehen, sind ja auch nicht alle schwul, sondern lediglich oral fixiert.12

GÜNTHER: Na, wie auch immer. Was mich betrifft, halte ich es mit Frank Zappa: „Was nicht in den Mund paßt, ist eh Verschwendung.“ (lacht)

CHLADA: Soll das heißen, du hältst nix von Luxus? Gilt das generell?

GÜNTHER: Ich komm’ ohne aus. Sperre mich aber auch nicht, wenn er sich mir aufdrängt. Ich bin zwar Atheist, stamme aber aus einer kargen, protestantisch geprägten Gegend, und das färbt natürlich ab. Und läßt einen neidisch auf die Bayern blicken, mit ihrem aus allen Nähten platzenden Katholizismus. Die beichten und sind mit einem Schlag all jene Sünden los, die der Protestant noch bis ins Grab mit sich herumschleppt. Daher kommt auch dieses staubtrockene Gedröge vieler ostdeutscher Autoren, obwohl ich zugeben muß, daß ich kaum was davon gelesen habe. All diese großen, gefeierten Autoren – die würden ihrem Nachbarn doch nicht mal in die Rosen pinkeln, wenn sie sturzbetrunken sind!

CHLADA: So was wie ’ne religiöse Phase hat es in deinem Leben also nicht gegeben?

GÜNTHER: Ach was. Man kann doch nicht jeder Mode nachlaufen.

 CHLADA: Womit wir beim DreckSack angelangt wären, der Literaturzeitschrift, die du herausgibst. Wie kam es eigentlich dazu? Hast du da nach einer Gelegenheit gesucht, deine Fotos bekannter zu machen?

GÜNTHER: Das war ein angenehmer Nebeneffekt. Ein anderer, nicht weniger wichtiger Punkt ist, daß ich, ein relativ fauler Mensch, zum Beispiel im Vergleich zu dir, mit in vielerlei Hinsicht interessanten Menschen kommunizieren und zu tun haben kann, ohne vor die Tür zu müssen. Darüber hinaus fand ich schon immer, daß zu viele gute Autoren zu wenig Beachtung finden und zu viele schlechte zuviel. Mich selbst natürlich eingeschlossen. (lacht)

CHLADA: Wie ist der DreckSack zu seinem Namen gekommen?

GÜNTHER: Weiß ich nicht mehr. Vielleicht wäre Müllsack sogar treffender gewesen. Denn das ist es, was ich meine: ein Sack voll Dreck, Müll, Abfall, der woanders weggeworfen wird. Man könnte auch sagen, eine Art „Bad Bank der Literatur“, um mal einen aktuellen Begriff zu verwenden. Das interessiert mich. Das ist es, wonach ich suche. Das ist der Kern des Blattes. Ein Container, in dem du das finden kannst, was verborgen bleiben soll. Denn es wäre ja schlimm, wenn die Leute plötzlich anfingen nachzudenken. Natürlich glauben auch manche, der Drecksack, von dem da die Rede ist, sei ich selbst. Das ist natürlich Quatsch. Aber wenn es hilft, das Blatt zu verkaufen und unter die Leute zu bringen, soll mir das Recht sein. Mir ist der Untertitel wichtig: Lesbare Zeitschrift für Literatur. Denn das hält mir die Autoren vom Leibe, die ich nicht dabei haben will.

CHLADA: Wer soll das sein?

GÜNTHER: Beispielsweise Autoren, die sich an Preisausschreiben nicht nur beteiligen, sondern sie auch noch gewinnen.

CHLADA: Kannst du das konkretisieren?

GÜNTHER: Ich glaube, das muß ich gar nicht.

CHLADA: Du machst, was die Auswahl der Texte angeht, alles allein …

GÜNTHER: Ja. Aber ich habe einen Wiener Grafiker und einen Lektor hier aus Berlin mit im Boot, ohne die geht gar nichts.

CHLADA: Aber du hast das Sagen …

GÜNTHER: Damit ich mich selbst vor die Tür setzen kann, wenn ich mal nicht mehr spure.

CHLADA: Nach welchen Kriterien wählst du die Texte für den DreckSack aus?

GÜNTHER: Sind sie verständlich, und können sie mir etwas nahebringen, von dem ich zwar weiß, daß es das gibt, aber nur aus der Ferne? Sind sie unterhaltend oder nur anstrengend? Wer schreibt da? Muß man bei ihm Abstriche machen, weil er rausholt was geht, aber sonst nirgends gedruckt würde? Hat er etwas zu sagen, das die Mängel in der Ausführung überwiegt? Der Text ist das Wichtigste. Aber es geht auch um soziale Dinge. Wenn mir ein Obdachloser oder Knacki schreibt, was juckt es mich da, daß seine Zeilen etwas holprig über’s Blatt spazieren. Er hat etwas zu sagen, was mir kein Autor sagt. Und das ist es, was zählt. – Im Übrigen kann man auch noch an Texten arbeiten, nachdem ich sie gelesen und Einwände angemeldet habe. Keiner ist vollkommen. Auch ich natürlich nicht. Niemand. Aber Texte, die sich lesen wie ein Bewerbungsschreiben bei der Kreissparkasse Fürth, sollen ruhig auch weiterhin in ndl, Die Horen oder ähnlichen abgeschlafften Denkmälern erscheinen. Für den DreckSack sind sie ungeeignet; sogar und erst recht, wenn sie in Gänze kleingeschrieben sind.

CHLADA: Du hast mir gestern abend noch am Telefon erzählt, du hättest inzwischen weit über hundert Autoren aus immerhin fünf oder sechs Ländern publiziert, was ich bei bisher erst zehn Ausgaben doch ziemlich beachtlich finde. Aber welche Reaktionen bekommst du auf das Blatt?

GÜNTHER: Überwiegend positive, um nicht zu sagen, eigentlich nur positive. Aber am liebsten sind mir natürlich die Beschimpfungen – oft von Autoren, deren Wunsch nach Veröffentlichung nicht entsprochen werden konnte. Da juckt es einem schon mal in den Fingern. Denn das sind oft Leute – ich möchte sie kein  zweites Mal Autoren nennen –, die nicht nur ihr Talent, sondern auch die Lesbarkeit ihrer Texte dermaßen überschätzen, daß man sich nur wundern kann. Aber das gehört dazu, natürlich. Und ich sammle diese Empörtheiten auch für eine spätere DreckSack-Ausgabe, denn man hilft ja, wo man kann.

CHLADA: Mit Kollegen hast du es nicht so, oder? Oder täuscht der Eindruck? Es gibt da dieses Gedicht von dir, Manaus heißt es, in dem du Dichter mit Nutten vergleichst.

GÜNTHER: Hast du es dabei?

CHLADA: Ja hier. Ich lese es mal vor: „Die Huren im / Hafenviertel waren / alle bitterarm. // Aber sie lachten den / ganzen Tag, / und eines Abends / schlug ich mich / mit einem Schotten, / der sie in grober Weise / angepöbelt hatte. // Dann setzte ich / mich wieder hin / und trank. // Warum hast du / das gemacht? fragte / mich einer von / den anderen. Der / Mann hat dir / doch nichts getan. // Ich bin Dichter, / sagte ich zu ihm. / Ergo sind das / alles hier Kolleginnen / von mir.“13

GÜNTHER: Und wo ist das Problem?

CHLADA: Ich habe kein Problem damit, daß du Dichter oder überhaupt Autoren mit Nutten vergleichst.

GÜNTHER: Und vollkommen zu Recht, wie ich meine, auch wenn ich das gar nicht generalisieren will. Es ist der Betrieb, der dich zwingt, dich zu prostituieren. Entweder du machst die Beine breit – und manchen fällt das eben leichter als anderen –, oder du verschwindest im Orkus, bevor du auch nur die Nase zur Tür reingesteckt hast.

CHLADA: Trifft das auf Männer und Frauen glei­chermaßen zu?

GÜNTHER: Mehr auf Männer, würde ich sagen. Aber es schreiben wohl auch mehr Männer als Frauen; jedenfalls bekomme ich das meiste von Männern. Gute Frauen sind rar gesät, noch viel rarer als Männer. Ich versteh’ auch nicht, warum die sich nicht trauen. Und wenn sie sich trauen, sich hinter einer unglaublichen Wortdrechselei verstecken. Als mich Susann Klossek, die nun wirklich Klartext redet, bat, ihr was für ihren neuen Gedichtband zu schreiben, antwortete ich ihr: „Susann Klossek haut mit der Faust auf den Tisch, wo andere Autorinnen nur zaghaft und verspielt am Spitzendeckchen zupfen“. Das spricht es, glaube ich, ganz gut aus. Aber ich bedaure das sehr. Sie sagt ja, Männer würden immer Klartext fordern, aber wenn sie ihn dann kriegten, zögen sie den Schwanz ein. Vielleicht hat sie ja Recht. Ich hab sie gern bei mir im Blatt.

CHLADA: Wie den DreckSack, so hast du auch deine ersten sechs Bücher14 in der Edition Lükk Nösens herausgebracht.

GÜNTHER: Das erste, Taschenbillard, ist leider schon einige Zeit vergriffen. Aber es gibt eine leicht gekürzte Nachauflage im Songdog Verlag Wien.

CHLADA: Aber Lükk Nösens – wie zum Teufel bist du auf die Idee gekommen, einem Verlag solch einen Namen zu verpassen?

GÜNTHER: Ich hatte mal ’ne Jandl-Phase. Ganz früher. Und eines meiner damaligen Gedichte hieß Lükk Nösens Trippeltheke, weil das so schön klingt, selbst wenn man es betrunken vorliest. Und als ich dann einen Verlagsnamen suchte, der weit genug weg klingt von so etwas wie „Eigenverlag“, fiel mir diese Zeile wieder ein.

CHLADA: Warum hast du selbst einen Verlag gegründet, anstatt dir einen zu suchen, so wie jetzt den Verlag Peter Engstler?

GÜNTHER: Das mit Pit hat sich ergeben, ohne daß ich viel machen mußte. Wir mögen uns und haben hier und da dieselbe Wellenlänge. Ansonsten scheint mir, neben dem Horden-Gen, wohl auch das Klinkenputzer-Gen zu fehlen. Ich weiß, das ist eine schwere Behinderung. Aber wie schon gesagt, ich arbeite lieber auf eigene Faust. Das schafft Unabhängigkeit. Ich bin nicht gut darin, Aufträge abzuarbeiten.

CHLADA: Du hättest vielleicht mehr Bücher verkaufen können.

GÜNTHER: Nicht mit Klein- und Kleinstverlagen, denn die können doch auch nicht mehr tun als ich selbst. Die drucken deine und die Sachen anderer und rennen danach zum Amt, um sich ihre Arbeitslosenkohle abzuholen. Das sind oft sehr ehrenwerte, engagierte Leute. Aber mir ist es lieber, ich bringe meine Bücher selbst heraus, und die kaufen sie mir ab. (lacht)

CHLADA: Wie lief das bei Peter Engstler?

GÜNTHER: So ähnlich.

CHLADA: Ihr habt bisher aber nur ein Buch zusammen gemacht?

GÜNTHER: Ja, Ausgemistet15.

CHLADA: Mit einem Nachwort von Hermann Peter Piwitt.

GÜNTHER: Einem äußerst liebenswerten Menschen und großartigen Schriftsteller, der es nicht nötig hat, sich von mir feiern zu lassen, und den kennenlernen zu dürfen mir eine große Ehre und Freude war. Daß er das Nachwort für den Sammelband – der übrigens auch neuere Texte beinhaltet – geschrieben hat, empfinde ich als Ritterschlag, der mich nach wie vor mit Stolz erfüllt. Ebenso wie die Tatsache, daß er extra nach Berlin zur Buchpremiere kam, obwohl er es nach einem langen Leben mit vielen Schlachten ziemlich in den Knochen hat. Am nächsten Morgen habe ich ihn im Hotel besucht. Wir haben uns in die Sonne gesetzt, ein paar Biere getrunken und die Nacht Revue passieren lassen, wie zwei alte Kameraden. Mich hat das tief bewegt.

CHLADA: Wird ein weiteres Buch im Verlag Peter Engstler folgen?

GÜNTHER: Sieht ganz so aus. Aber so genau weiß man das nie. Man darf sich auch nicht gegenseitig überfordern.

 

Letzter Tag. Günther empfängt mich in seiner Mansardenwohnung, zwei Zimmer, 48 Quadratmeter, wie er mir sagt und was zu stimmen scheint. Die Wohnung wirkt überraschend aufgeräumt, die Einrichtung ist schlicht und funktionell: ein paar Regale, Couch, Schreibtisch und Stuhl.

 

CHLADA: So wohnst du also.

GÜNTHER: Ja, so wohne ich. Willst du ein Wasser oder so was?

CHLADA: Erstmal nicht. Darf ich rauchen?

GÜNTHER: Klar, nur zu. Nimm dir den Aschenbecher da …

CHLADA: Ist das Bach?

GÜNTHER: Kann sein. Ich hör’ nur Radio.

CHLADA: Gehst Du auch zu Konzerten?

GÜNTHER: Nein. Ich geh’ nie zu Konzerten. Ich kann mich da nicht konzentrieren. Ich hocke da, angstschwitzend, eingezwängt und eingeschüchtert zwischen zwei dickgepuderten Matronen aus Charlottenburg, seh’ mir die Musiker an und denke, der da hat doch bestimmt Löcher in den Socken. Und dieser Typ da hinten guckt, als hätte er ’ne kräftige Steuernachzahlung zu verdauen. Und dieses Mäuschen da rechts an der Harfe ist bestimmt noch Jungfrau, obwohl sie doch so wundervoll spielt … Nein, das bringt mir nichts. Ich muß das zu Hause hören. Nachts. Allein. In völliger Dunkelheit. Oder gleich morgens, um in Stimmung zu kommen, so wie jetzt. Konzerte haben einfach den Nachteil, daß sie mit Menschenmassen einhergehen, und da fühle ich mich nun mal deplaziert.

CHLADA: Apropos Menschenmassen … Umberto Eco sagte mal, er hasse nicht den Fußball, sondern die Fußballfans. So geht’s mir mit Brinkmann und Bukowski, mehr noch mit Fauser.

GÜNTHER: Kann ich gut verstehen.

CHLADA: Was hältst du von Fauser, wie siehst du ihn?

GÜNTHER: Gefällt mir nicht mehr. Zu verbiestert. Gibt es auch nur ein einziges Foto von dem, wo er mal lächelt? Das erste, was ich von ihm schon zu DDR-Zeiten las, waren seine Gedichte, und ein Großteil davon gefällt mir noch heute. Wirklich stark sind seine Essays und Kolumnen. Da gibt es wahre Schätze. Aber seine Romane sagen mir nichts. Auch Rohstoff nicht. Das ist mir alles viel zu exotisch.

CHLADA: Aber du hast ein Gedicht über Fauser16 geschrieben, Sommer 2006, das ich sehr stark finde: „Die Hitze ist kaum / auszuhalten. // Das Gegröle / von der Straße dringt wie / durch eine Wand / aus Nichts zu mir ins / Zimmer. // Und plötzlich kommt / mir Fauser in den / Sinn, der einzige deutsche / Schriftsteller, / der mir je etwas / bedeutet hat und von / einem Laster überrollt / wurde. // Jörg, die sagen, / du seiest betrunken / gewesen, als / dich der Laster / überrollte, du hättest / ihn nicht kommen / sehen. // Ich aber glaube, / du hast ihn sehr wohl / kommen sehen. // Und es / war dir ganz / egal.“

Du behauptest also, Fauser wäre der einzige deutsche Schriftsteller, der dir je etwas bedeutet hat.

GÜNTHER: Ja, und die Betonung liegt auf hat.

CHLADA: Was stört dich denn plötzlich an ihm?

GÜNTHER: Mich hat schon immer seine entsetzliche Humorlosigkeit gestört. Mann, wir haben doch alle so viele Täler durchschritten, daß es allmählich an der Zeit ist, da auch mal drüberzustehen und über den ganzen Alptraum, den wir Leben nennen, zu lachen. Hemingway ist auch so ein Bärbeißer. Anstatt sich mal zu freuen, hat er scharenweise Tiere erlegt, die ihm nichts getan haben; herrliche Geschöpfe, Gnus, Löwen, Zebras, Flamingos … Ist das die Bücher wert? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Mir tut das Viehzeug leid. Und da ist es mir lieber, wir schlachten uns selbst.

CHLADA: Ich erinnere mich genau, 1987 war das, da habe ich den Band Die Pille gegen das Grubenunglück von Spring Hill von Richard Brautigan gelesen. Für mich eine Offenbarung, eine – wenn man so will – prägende Erfahrung. Kennst du sowas auch? Welche Autoren schätzt du besonders? Gibt es literarische Vorbilder, die du einst hattest oder vielleicht noch immer hast?

GÜNTHER: Ja. Tschechow, Céline und Bukowski. Und da die eh nicht mehr einzuholen sind, belasse ich es dabei, ein bißchen vor mich hin zu bosseln. Aber wollten wir heute nicht über die Fotos sprechen?

CHLADA: Ja, ja. Da kommen wir schon noch hin …

GÜNTHER: Scheiße, Marvin, wir machen hier ein Fotobuch!

CHLADA: Aber das gehört für mich zusammen, deine Gedichte und deine Fotografien! Also noch mal gefragt: Gibt es ein bestimmtes Buch, das dich in besonderer Weise geprägt oder eine Zeit lang begleitet hat?

GÜNTHER: Wichtig war On the Road von Kerouac. Und wenn ich nur den Namen ausspreche, muß ich schon an einen engen Freund denken, der vor über dreißig Jahren gestorben ist, weil ihm die Polizei im Nacken saß. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Damals war On the Road, das ich heute nicht mehr lesen könnte, eine Offenbarung nicht nur für mich, sondern auch für sehr viele andere in der DDR. Und allein die Tatsache, daß es überhaupt erscheinen durfte, Anfang der 80er Jahre, zeigt den Erosionszustand der Landes und seiner „Organe“ schon zu dieser Zeit. Für mich war es ein winziges Stück der Welt, die sich jenseits der Mauer befand. Ein Fenster das sich öffnete und Sonnenlicht hereinließ. Ein Wunsch und eine Hoffnung. Und daß Jahre später Leute auf die Straße gingen, die On the Road vielleicht gar nicht gelesen hatten, heißt nicht, daß sie davon nicht trotzdem profitierten. Es war ein weiterer fauler Zahn in einem heruntergekommenen Gebiß, und sie haben ihn herausgezogen und uns jungen Leuten in die Hand gedrückt. Ich bin mir sicher, daß ich erst durch dieses Buch anfing, nach Möglichkeiten zu suchen, mir auch den übrigen Teil der Welt zu erschließen.

CHLADA: Was schwebte dir denn vor?

GÜNTHER: Ich wollte auf einem Umweg zum Reisepaß kommen, und der Umweg hieß Kunst, hieß Fotografie. Denn wenn ich im Westen ausstellen würde, könnte ich auch reisen, dachte ich. Aber dazu kam es dann nicht mehr, weil mir die Wende zuvorkam.

CHLADA: Und warum bist du nicht einfach ausgereist?

GÜNTHER: Das war ein Konflikt, der mit meiner Familie und ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Mein Großvater, an dem ich hing, war als Kommunist im Widerstand gewesen, wurde im Gestapohauptquartier gefoltert und war jahrelang in einem Lager in der Nähe von Berlin inhaftiert, dessen Insassen, die aus ganz Europa kamen, sich später selbst befreiten. Darauf bin ich stolz. Und dem fühlte und fühle ich mich heute noch verpflichtet. Und es wäre mir wie Verrat vorgekommen, in ein Land auszureisen, das voller Nazis war, die nicht gezögert hätten, meiner Mutter und meinen Großeltern ins Gesicht zu spucken, weil sie sich, nach ihren Möglichkeiten, aber immerhin von Anfang an gegen Hitler und seine Anhängerschaft gestemmt hatten – ganz im Gegensatz übrigens zu denen, die wir heute Jahr für Jahr hochleben lassen, obwohl sie die Leichenberge von hier bis tief in den Osten erstmal abgewartet haben, bevor sich ihr Gewissen regte …

CHLADA: Nazis mit Gewissen? Oder doch nur die Ahnung, daß der Wind sich dreht? Immerhin: Um Hitler loszuwerden, haben auch sie ihr Leben riskiert und letztlich ja auch verloren.

GÜNTHER: Aber der Zeitpunkt ihres Widerstandes bleibt trotzdem eine Schande. Genau wie die Tatsache, daß man uns diese Leute als den „Deutschen Widerstand“ verkauft. Stellvertretend für all jene, die schon vorher verreckt, aber keine Adligen waren, vor denen wir Deutschen uns ja nach wie vor untertänigst verbeugen, weil wir uns nicht verzeihen können oder wollen, den Kaiser in die Wüste geschickt zu haben. Das wirkt bis heute nach. Das ist ein Trauma. Deswegen muß ein Fußballspieler Kaiser sein.

CHLADA: Zu deinen Fotografien ...

GÜNTHER: Na endlich!

CHLADA: Du konntest zwar nicht in den Westen reisen, das hat dich aber nicht daran gehindert, Länder des sogenannten Ostblocks zu besuchen und dort zu fotografieren.

GÜNTHER: Nein. Ich reiste aus allen möglichen Gründen, aber da ich nun mal Fotograf bin, hatte ich meine Sachen natürlich immer dabei.

CHLADA: Was waren das für Reisen?

GÜNTHER: Manchmal ganz profane Urlaubsreisen. Aber manchmal war man eben auch dienstlich unterwegs. In Moskau beispielsweise habe ich ein paar Tage im Messebau gearbeitet. Abends bin ich dann durch die Stadt spaziert, auf der Suche nach einer typisch russischen Kneipe – oder überhaupt einer! Aber die Russen schienen alle zu Hause zu saufen, und so machte ich wenigstens ein paar nächtliche Bilder vom Roten Platz (S. 71), die auf Grund der Lichtverhältnisse natürlich bewegungsunscharf sind, aber die Atmosphäre recht gut einfangen, die dort um diese Zeit herrschte. Ähnlich ging es mir mit dem Dserschinski-Platz (S. 69), an dem ich zufällig bei einem meiner einsamen Erkundungsgänge vorbeikam. Plötzlich war es dunkel und es regnete in Strömen. In Rumänien (S. 92-113) und einigen anderen Ländern war ich einfach nur aus Neugier, aber ich kann das jetzt unmöglich alles aufzählen. Wichtig scheint mir zu sein, daß wir überhaupt gereist sind und uns angesehen haben, wie die anderen lebten. Verglichen mit vielen Ecken des Ostblocks war die DDR ein Paradies. Das muß man wissen. Rumänien war bitterarm, und die Leute hatten auf eine Weise Angst, die wir nicht kannten, und die auch berechtigt war.

CHLADA: Sag trotzdem was zu den Schäfern da. Wie bist du zu denen gekommen?

GÜNTHER: Über die Berge. (lacht) Aber frag’ mich jetzt nicht, wo genau das war; irgendwo in den Ostkarpaten. Die lebten da für drei Monate völlig autark, aßen und tranken nur Sachen, die sie aus der Milch der Schafe gewannen und sich täglich zubereiteten. Das waren nette, bescheidene Jungs, und ich erinnere mich an eine Speise, die wie Grieß schmeckte. Ganz seltsam. Und ein bißchen nüchtern und fade. Sie aßen das jeden Tag nach der Arbeit. Dieses lange Blasinstrument auf einem der Bilder war eine Art Telefon, mit dessen Hilfe sie mit anderen Schäfern in den Bergen kommunizierten, beispielsweise um sich über das Wetter auszutauschen. Der Mann mit dem großen, breiten Gürtel war der Chef; deshalb der Gürtel. Ich fotografierte sie einen ganzen Tag lang. Das waren gutmütige, freundliche und seit Jahrhunderten bitterarme Leute, die sich wahrscheinlich gefragt haben, wo kommt denn dieser Irre plötzlich her. (lacht) Ich hab die Fotos auch in meiner letzten großen Ausstellung 1989/90 in Berlin gezeigt. Du mußt dir die Abzüge so ungefähr in DIN-A2-Größe vorstellen.

CHLADA: Hast du die selbst gemacht? In einem eigenen Labor, mit all den Wannen und Chemikalien und so?

GÜNTHER: Sicher. Ich hab’ alles selbst gemacht, auch das Entwickeln der Filme. Das war damals nichts Besonderes, aber immer eine große Materialschlacht, weil ich da sehr pingelig war. Fotomaterialien waren in der DDR nicht billig, aber doch halbwegs bezahlbar. Da ging das noch. Nach der Wende war dann Schluß damit. Alles wurde viel zu teuer, so daß ich nur noch Aufträge annehmen konnte, bei denen die Vergrößerung der Bilder nicht mehr meine Sache war.

CHLADA: Was waren das für Aufträge?

GÜNTHER: Titel für kleinere Zeitschriften und Magazine, die es heute gar nicht mehr gibt, wie das Neue Leben. Oder Montagen zu einem bestimmten Thema. Für das Basler Magazin war ich mehrmals in Frankreich und anderen Ecken Europas. Aber das war Pressefotografie, davon ist hier kaum etwas im Buch, das ist Alltag, Leute bei Versammlungen, was weiß ich. Die Fotos hier sind oft nebenher entstanden, die hatten nichts mit dem eigentlichen Job zu tun. Und das gilt auch für die Brasilienfotos im letzten Abschnitt. Meine eigentliche Aufgabe war, 3D-Dias von Umweltprojekten in Brasilien zu machen, mit denen meine Auftraggeber dann hier durch die Hallen und Universitäten ziehen wollten. Das Interesse damals war enorm, wie ich in München erfahren konnte, wo 2000 Leute einen ganz normalen Diavortrag über Costa Rica ansahen. Ich bin damals zwischen dreißig und vierzig Mal geflogen, allein in Brasilien, weil das Land so unglaublich groß ist. Aber die Fotos hier im Buch habe ich nebenher gemacht. Erstmal nur für mich. Mit meiner kleinen Nikon und einem 35er Objektiv, denn ich wollte mich zwingen, nahe an die Leute heranzugehen, den persönlichen Kontakt zu suchen. Mich nicht, mit einem Teleobjektiv bewaffnet, hinterm Busch zu verstecken. Meine Angst zu überwinden.

CHLADA: Warum war dir das so wichtig?

GÜNTHER: Weil ich eigentlich eher zurückhaltend  bin, und das ist für einen Fotografen nicht die beste Voraussetzung. Ich weiß, es gibt Fotografen, die sagen, sie würden sich hinter ihrer Kamera verstecken, so daß sie ihre natürlichen Hemmungen auf diesem Wege überbrückten. Mir ist das nie gelungen. Ich kam mir immer aufdringlich, um nicht zu sagen unverschämt vor. Und dagegen gibt es nur ein Mittel: Geh’ auf die Leute zu, frage sie, sei freundlich, bring’ sie zum Lachen. Brasilianer lieben das. Besonders die Frauen. Wenn ich denen erzählt habe, daß Frauen bei uns schon eingeschnappt sind, wenn man ihnen nur nachpfeift, haben die mich angeguckt wie von einem anderen Stern.

CHLADA: Hast du diese Technik auch in Tschechien angewandt, wo du diesen Mann mit heruntergelassener Hose fotografiert hast? Wie läuft so was ab? Du gehst doch sicher nicht zu jemandem hin und sagst: „Bitte, sind Sie so gut und bücken sich, mir ist Ihr Hintern aufgefallen, den würde ich gern fotografieren.“ (S. 9)

GÜNTHER: (lacht) Ich versuche es nicht immer, aber oft, und das gelingt auch meistens, indem ich den Betreffenden signalisiere – so er sich in meiner Nähe aufhält – was ich vorhabe. Wehrt er ab, geh’ ich weiter meiner Wege. Ganz einfach. Ich hasse es, Leuten auf die Pelle zu rücken, die sich ja oft gar nicht dagegen wehren können. Der Arsch gehört einem alten Freund von mir. Wir waren zusammen in Lovosice, einem kleinen tschechischen Nest nahe der damaligen DDR-Grenze. Ich nehme mal an, er war blau, hatte eine nasse Zunge, wie man sagt. Denn normalerweise führt der sich nicht so auf.

CHLADA: Höflich gefragt hast du ihn also offenbar nicht.

GÜNTHER: Dafür war keine Zeit, und das würde mich auch wundern; zumal ich ihn jetzt, wo ich das Foto veröffentliche, auch nicht um seine Erlaubnis gebeten habe. Freunde haben es schwerer als andere. Besonders meine.

CHLADA: Ich nehme an, daß wohl die meisten Leute, wie die Frauen mit den Einkaufstaschen zum Beispiel, gar nicht erst mitbekommen haben, daß sie da bei ihrem Treiben fotografiert werden (S. 11). Andere aber schon. Wie war das bei dem Mann mit Hut (S. 12/13)? Wo ist das Foto entstanden? Stand der Typ da schon so rum, oder hast du das bewußt arrangiert?

GÜNTHER: Nein, das ist nicht arrangiert. Das war ’ne Kneipe, auch in Lovosice. So ’ne Art Imbiß, wo die Leute schon am frühen Morgen herumstanden, Speck aßen, Bier oder Rum tranken, nach Knoblauch stanken. Und der Mann war einer von ihnen, etwas abseits stehend, vielleicht ein Einzelgänger, von den anderen gemieden, oder umgekehrt. – Aber mal ganz grundsätzlich: Ich bin ein eher scheuer Mensch und arbeite lieber mit dem Einverständnis derer, die ich fotografiere. Das macht es mir leichter. Zumal die Leute meistens auch geduldiger sind, wenn sie dir ihre Zustimmung gegeben haben. Leuten ungefragt auf die Pellen zu rücken, ist zwar gang und gäbe, manch­mal auch unumgänglich, aber nicht mein Ding. Ich bin kein Fotojournalist. Und wenn einer abwinkt, hat er von mir nichts zu befürchten. Ich muß das nicht machen, und ich habe das professionelle Fotografieren nicht zuletzt deshalb an den Nagel gehängt, weil es mir manchmal vorkam, als würde ich bei wildfremden Menschen in die gute Stube platzen und ihnen auf den Teppich pinkeln. Das konnte und wollte ich irgendwann nicht mehr.

CHLADA: Wie entstanden die Aktfotos? Viele hast du ja nicht mit ins Buch genommen. Erzähl mir ein wenig von deinen Modellen und wie es zu den Bildern gekommen ist.

GÜNTHER: Für mich sind Akte nichts anderes, als sagen wir mal, Kochtöpfe oder Pflanzen. Daß so wenige im Buch sind, hat damit zu tun, daß halt nur sie hineinpaßten. Aber ich habe Hunderte, wenn nicht Tausende Aktfotos gemacht, weil sie eine Herausforderung darstellen, was Licht und Schatten angeht. Das ist ganz knifflig und interessant. Man kann dabei eine Menge lernen, sein Auge schulen. Insbesondere, wenn du über kein Studio und die dort normalerweise vorhandene Technik verfügst. Zu den Modellen kam ich, neben den Frauen, mit denen ich eh zu tun hatte, auf vielen Wegen; einer davon war Dachs (S. 197), eine Malerin, die, wenn ich ihr mein Leid klagte, dafür sorgte, daß sich ein paar ihrer Modelle meiner erbarmten. Sie wohnte in Weißensee und kannte schon durch ihre Arbeit jede Menge Modelle; die sie durchaus auch mal zusammenstauchte, wenn sie mich versetzt hatten – was natürlich dauernd vorkam. Die waren jung und keck. Überall gab’s Künstlerparties, und ich bezahlte sie nicht mal. Aber Dachs war eine gute Seele. Sehr kollegial, uneigennützig und hilfsbereit. Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist.

CHLADA: Sowohl deine Aktfotografien, soweit ich sie kenne, als auch sämtliche anderen Fotos von dir sind in Schwarz-Weiß gehalten? Warum nie in Farbe?

GÜNTHER: Weil Farbe „geschwätzig ist“, wie Kapuscinski sagt. Das kann man gar nicht besser ausdrücken.

CHLADA: Farbbilder, die nicht geschwätzig sind, gibt es keine?

GÜNTHER: Doch, bestimmt. Aber mir gefällt das Zitat. Und da es von Kapuscinski ist, hoffe ich, daß er sich darüber Gedanken gemacht hat. (lacht)

CHLADA: Kerouac hat ja ein Vorwort zu The Americans von Robert Frank verfaßt. Kennst du den Band?

GÜNTHER: Klar.

CHLADA: Aber er selbst hat, glaube ich, nicht fotografiert.

GÜNTHER: Glaub nicht, nein.

CHLADA: Aber Ginsberg und Salzinger fallen mir da ein. Und natürlich Ira Cohen. Kennst du deren Bilder?

GÜNTHER: Ira Cohen ist nicht so mein Ding, obwohl ich weiß, daß hier einige – du ja auch – ein ungeheures Getue um ihn machen. Aber ich kenne die Fotos von Ginsberg, Bowles und ein paar anderen, was nicht verwunderlich ist. Es gibt ja sogar Schauspieler, die fotografieren.

CHLADA: Und nicht zu vergessen, die Musiker.

GÜNTHER: Zum Beispiel?

CHLADA: Nikki Sixx zum Beispiel. Der hat ’nen Fotoband herausgebracht. Quasi als Fortsetzung seiner Heroin Diaries.

GÜNTHER: Muß ich schon wieder passen. Aber im Gegensatz zu dir hab ich auch nie sehr viel mit Musikern zu tun gehabt.

CHLADA: Aber du warst mal Sänger in einer Punkband.

GÜNTHER: Ja, aber das hatte nichts mit Musik zu tun. (lacht)

CHLADA: Und es gibt ein Gedicht von dir über Nikki Sudden17.

GÜNTHER: Ja, wir sind ein paar Mal zusammen aufgetreten. Es ist ein Jammer, daß er tot ist. Ich mochte ihn. Es ist immer dasselbe mit dieser verdammten Drogenscheiße.

CHLADA: Gab es noch mehr Drogentote in deinem Freundes- und Bekanntenkreis?

GÜNTHER: Es gab einige Tote, aber nicht nur wegen Drogen. Es gab Morde und Selbstmorde, Unfälle und Krankheiten … Aber das ist nun wirklich kein schönes Thema.

CHLADA: Also zurück zur Fotografie. In Berlin waren großartige Ausstellungen in den letzten Jahren! Avedon, Leibovitz, McCollin, um nur einige zu nennen.

GÜNTHER: Ja, das sind alles Helden, bis auf die Leibovitz vielleicht. Aber ich stell’ mich nicht gern an.

CHLADA: Magst du die Leibovitz nicht?

GÜNTHER: Michael Douglas hat gesagt, die Frau sei eine unerträgliche Zimtzicke. (lacht) Nein, ich finde nur, daß es interessantere Fotografen gibt.

CHLADA: Da stimm ich dir zu. Näher käme dir da wahrscheinlich Brasseï, der ja auch mit Henry Miller befreundet war.

GÜNTHER: Und auch ein Buch über ihn und seine Zeit in Paris geschrieben hat, das ich aber noch nicht gelesen habe, obwohl es das sicher wert wäre. Bücher über Autoren sind ja oft viel interessanter als deren eigenes Werk. Weegee ist auch so ein Kandidat. Und eine Enkelin der beiden gewissermaßen ist Vivian Maier. Eine New Yorker Straßenfotografin, die erst nach ihrem Tod bekannt wurde und in 40 Jahren 100.000 Fotos gemacht haben soll, die vor ein paar Jahren zufällig entdeckt wurden, und von denen nur eine Handvoll bisher veröffentlicht ist. Jedes dieser Fotos ist ein Meisterwerk, einer Perle. Ganz fantastisch. Ich liebe jedes einzelne Bild.

CHLADA: Wahrscheinlich ähnlich wie Diane Arbus.

GÜNTHER: Ja. Deren Fotos habe ich neulich in London gesehen. Auch toll.

CHLADA: Verfolgst du diese Szene?

GÜNTHER: Nein, gar nicht. Auf Vivian Maier wurde ich von einem Freund hingewiesen, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Ich habe mir ihr Buch besorgt und sehe es mir immer wieder an.

CHLADA: Gibt es deutsche, speziell DDR-Fotografen, die du schätzt?

 GÜNTHER: Da fällt mir spontan nur Helga Paris ein, und natürlich Gundula Schulze, die eine phantastische Fotografin ist, der ich aber leider nie begegnet bin, obwohl sie ja nicht weit weg von hier, im Prenzlauer Berg wohnte und arbeitete. Leider besitze ich keines ihrer Bücher, aber den Fotografien nach zu urteilen, die ich kenne, scheint sie mir eine der wenigen Fotografinnen aus dem Osten zu sein, die sich mit den größten ihrer Kunst messen kann. Sie ist ja wohl eher klein und zierlich und muß ein besonderes Talent haben, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Männern gelingt das oft viel schwerer, so nahe und bis in die privatesten Bereiche der Leute zu kommen. Schon durch ihre körperliche Erscheinung.

CHLADA: Wie sieht’s eigentlich mit Filmen bei dir aus?

GÜNTHER: Interessieren mich nicht besonders. Jedenfalls nicht das, was in den Kinos läuft. Kurz nach der Wende lud mich jemand ins Kino ein. Sie spielten irgendeinen Film von Kaurismäki, der mich umgehauen hat. Welcher es war, ist eigentlich egal, weil die alle gut sind. Und an einem anderen Tag Let’s get lost. – Das war etwas, wovon ich in der DDR geträumt habe: einen guten Film in einem leeren Kino sehen. In der DDR war das unmöglich. Wenn da was Gutes lief, wußten es alle, und dementsprechend ging es auch im Kino zu – meistens war es das Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz (S. 140). Krethi und Plethi, soweit das Auge reichte. Jeder mit seiner Puppe, jede Puppe mit ihrem Macker. Das Kino war gerammelt voll. Da knisterte einer mit Papier, da aß einer einen Apfel oder unterhielt sich laut, da hatte jemand die Hand unterm Rock seiner Alten, die das mit den entsprechenden Grunzlauten goutierte. – Das reinste Affenhaus. Schauderhaft. Unerträglich. Ein Publikum wie im Stadtneurotiker von Woody Allen.

CHLADA: Du fühltest dich einsam, da in der Menge …

GÜNTHER: Auch, ja. Aber ich hatte einen guten Freund, der mich da trotzdem immer wieder hingeschleppt hat, auch wenn nicht soviel los war. So sah man Filme von und mit Erich von Strohheim, Ernst Lubitsch und so Sachen. In der Nähe gab es eine Speisegaststätte, in die wir anschließend immer gegangen sind, weil da eine Kellnerin bediente, in die ich verliebt war, eine kleine, dralle, schwarzhaarige. Und der ich den längsten und schrägsten Liebesbrief aller Zeit geschrieben habe – wenn ich mich recht erinnere, kam sogar Fidel Castro darin vor. Und weil mir wieder mal meine Schüchternheit im Weg stand, bat ich meinen Kumpel, ihn ihr zu überbringen. Sie war nicht besonders überrascht, erzählte er mir später. Aber sie warf nur einen kurzen Blick drauf und flüsterte erschrocken, sie sei verheiratet – mit einem äußerst eifersüchtigen Mann, der in der Küche arbeitet! (lacht) Ich bin da nie wieder hingegangen.

CHLADA: Auch wenn dich Filme als Konsument nur mäßig interessieren: Wäre das Medium Film nicht auch etwas, das für dich als Autor in Frage käme?

GÜNTHER: Ich erzähl’ dir eine kleine Geschichte: Ich hatte ein Drehbuch geschrieben und kurz nach der Wende einen Kameramann in Westberlin kennengelernt, dem ich sagte, ich bräuchte 20.000 Ostmark, um den Film zu realisieren. Woraufhin er sagte: „O.k. Ich geb’ dir 2.000 Westmark. Geh zum Alexanderplatz, rubel die um, dann hast du deine 20.000.“ – Ich habe abgelehnt.

CHLADA: Warum?!

GÜNTHER: Wenn ich das wüßte. Es war dumm von mir, wenigstens aus heutiger Sicht. Denn ich fand das irgendwie ungerecht gegenüber der Ostmark, auch wenn ich das heute nicht mehr nachvollziehen kann, man weiß ja nicht immer, warum man dieses oder jenes tut. Ich vermute mal, ich hing dann doch noch irgendwie an meiner kleinen, mistigen DDR. Und ich empfand diesen Kurs als Beleidigung der Leute im Osten. Aus heutiger – und auch damaliger – Sicht dermaßen idiotisch, daß man sich kaum traut, es zu erzählen.

CHLADA: Wurde der Film später noch realisiert?

GÜNTHER: Ach was. Der Zug war abgefahren.

CHLADA: Du hättest das auch weglassen können, wenn es dir unangenehm ist …

GÜNTHER: Ja, aber Fehler und Irrtümer gehören dazu. Und es war ja auch nicht ganz untypisch für diese Zeit. Keiner wußte, was kommen würde. Angst und Freude wechselten sich ab. Das Alte verschwand, und das Neue, oder andere, hielt sich noch bedeckt. Ich selbst verstand in dieser Zeit, was ich mir vorher nie erklären konnte, nämlich warum Millionen Menschen einem Mann wie Stalin nachgeweint haben. Die waren verunsichert. Und hatten einen mörderischen Schiß vor dem, was kommen würde.

CHLADA: Apropos Wende, oder wie immer man das bezeichnen will. Meine Ex hat mir damals ein Stück von der Berliner Mauer mitgebracht, liegt bei mir zu Hause als Papierbeschwerer herum.

GÜNTHER: Na, erstmal wurden diese Dinger ja millionenfach gefälscht. Denn wenn die alle echt gewesen wären, hätte die Berliner Mauer länger sein müssen als die Chinesische. Aber ich will dir nicht den Spaß verderben. Deins ist vermutlich echt. Ganz sicher. Bestimmt. Illusionen sind wichtig, auch Lügen sind wichtig.

CHLADA: Wahrheit?

GÜNTHER: Kann im Alltag nützlich sein. In der Kunst ist sie eher hinderlich. Aber was ich erzählen will: Ich habe einen Freund aus Bonn, dessen Texte auch schon im DreckSack erschienen sind, und der sich für das Deutsch-Russische Museum interessierte, du kennst das wahrscheinlich vom Hörensagen. Das ist da, wo Keitel die Kapitulationsurkunde unterzeichnet hat, und wo von Zeit zu Zeit ganz gute Fotoausstellungen stattfinden. Jedenfalls schlendern wir so durch die Räume und kommen schließlich an einem Sockel vorbei, mit dem Schild: „Stalins Pfeife“. Aber da war keine Pfeife, der Sockel war leer! Und ich dachte: Warum konnten die da nicht IRGENDEINE Pfeife von, was weiß ich – einem Kutscher oder Hausmeister hinlegen?! Ich hätte ihnen das abgekauft und gedacht: Sieh mal einer an, auf diesem Teil hat dieses Stinktier nun herumgekaut. Satt dessen: nichts! Ein weißer, nutzloser Sockel, und ein enttäuschter Besucher mehr! Mir wäre eine Lüge lieber gewesen.

CHLADA: Hast du ein Stück, von dem du sicher weißt, daß es echt ist?

GÜNTHER: Wozu? Was soll ich damit? Ich hatte das ganze Bauwerk jahrelang vor der Nase und kann mich noch sehr gut an alles erinnern. Ich mochte die Mauer nicht und werde sie für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen. Warum sich also noch was davon aufbewahren? Übrigens kenne ich ein Lager, in dem noch einige vollständig erhaltene Mauersegmente stehen. Ich bräuchte nur da hinfahren, den Schlüssel hat ein Freund von mir, um mir ein paar Brocken in die Taschen zu stecken.

CHLADA: Würde dich vielleicht reich machen.

GÜNTHER: Bin ich doch schon – an Erfahrungen.

CHLADA: Und Erinnerungen. Deshalb würde ich zum Schluß gern noch ein paar Fotos erwähnen wollen, vielleicht fällt dir ja das eine oder andere dazu ein. Hier erstmal der Schäferhund (S. 25). Wieso heißt das Foto Krause? Das wird ja wohl nicht der Name des Hundes sein.

GÜNTHER: Doch.

CHLADA: Krause?!

GÜNTHER: Ja, so nannte ihn meine Freundin, weil er einem Mann namens Krause gehörte, der ihn beim Würfelspiel an sie verloren hatte. Das war vielleicht ein Vieh! Konnte Türen aufklinken. Und ist zum Kacken ganz alleine rausgegangen, du mußtest nur die Tür im Hausflur öffnen, denn die ging ein bißchen schwer, oder er ist einfach aus dem Fenster gesprungen. Ich habe ihn in einem meiner Gedichte beschrieben: Zu dritt auf 80 Zentimetern18. Ein Riesenvieh, das sich immer zu mir und meiner Freundin ins Bett gedrückt hat. Extrem eifersüchtig. Das Problem war, wenn ich ihn an die Gasleitung im Flur gebunden habe, konnte ich auch nicht schlafen, weil ich die ganze Zeit in Sorge war, daß er sie mir aus der Wand reißt. (lacht)

CHLADA: Auf dem Ostkreuzfoto hier (S. 50/51) interessiert mich das Pärchen da unten auf dem Bahnsteig.

GÜNTHER: Man weiß nicht, ob sich die beiden streiten, oder ob sie ihm nur die Krawatte richtet.

CHLADA: Genau! Darauf wollte ich hinaus. Denn ich habe mal etwas Ähnliches erlebt, bei einer Zugfahrt in Österreich. Ich schau’ aus dem Fenster und da rennt ein älterer Mann, ein Bauer offenbar, quer über’s Feld, und hinter ihm her vermutlich seine Frau, die Bäuerin. Keine Ahnung, ob die beiden da gerade Spaß zusammen hatten, oder ob sie ihm einfach nur kräftig den Arsch versohlen und er sich aus dem Staub machen wollte, wer weiß? Es ist so doppelbödig, das gefällt mir.

GÜNTHER: Ja. Ich habe das Foto auch für das Cover von Dicker Max & Co. verwendet.

CHLADA: Ein anderes Foto, das mir gefällt, ist das hier mit den zwei Jungen (S. 35). Fällt dir dazu etwas ein?

GÜNTHER: Eine interessante Geschichte: Als ich anfing, an diesem Buch zu arbeiten, die ersten Bilder auszuwählen und so, besuchte mich Klaus Zylla, ein phantastischer Maler und sehr guter Freund. Der sah sich diese Fotos an und war ganz begeistert, und ich verstand das gar nicht. „Siehst du das nicht?! Die Jungs stehen vor der Weltkarte und halten ein Schild hoch: ,Eintritt verboten!‘ – das war die DDR!“ Vielleicht hätte ich die Fotos aussortiert, wenn er sie mir nicht erklärt hätte.

CHLADA: Die tätowierte Rose hier (S. 47) …

GÜNTHER: Dazu sage ich nichts. Oder nur das, was Bodo, der Koch in meiner Stammkneipe, zu sagen pflegt: „Das ist ’ne längere Geschichte.“

CHLADA: In Ordnung. Die Party ist vorbei (S. 49) – was ist da passiert?

GÜNTHER: Da schläft eine Frau.

CHLADA: Und?

GÜNTHER: Nix und. Sie war betrunken und hatte sich entschieden, nicht noch endlose drei Meter bis zum Bett zu laufen, sondern es sich gleich im Türrahmen bequem zu machen. Der Rest ist Fantasie.

CHLADA: Der Schafskopf hier (S. 55). Den hattest du auch schon mal auf der Titelseite des DreckSacks.

GÜNTHER: Ja, aber so was geschieht intuitiv, nicht weil das so ein großartiges Foto wäre. Mein damaliger Schwiegervater, ein Ägypter, hatte ein Schaf geschlachtet und bereitete nun alles für den abendlichen Grill vor. So was beschloß der von einer Minute auf die andere. Er aß auch Tauben. Aber als ich ihm einmal beim Schlachten zur Hand gehen mußte, kriegte ich sie nicht mehr runter, obwohl er ein Meister der Zubereitung war. „Ganz zart!“, hat er gesagt. Aber es ging einfach nicht, und wahrscheinlich ist ihm in diesem Augenblick klar geworden, daß seine Tochter eigentlich etwas Besseres verdient gehabt hätte! (lacht)

CHLADA: Wenn dein Schwiegervater Ägypter war, liegt es nahe, daß Amira (S. 62/63) deine Tochter ist. Jedenfalls schließe ich das aus ihrem Namen. Und sie taucht ja an verschiedenen Stellen im Buch auf.

GÜNTHER: Ja, ich hab das zum ersten Mal bei Robert Frank gesehen, dessen Familie ja auch in seinen Büchern auftaucht. Denn man zögert natürlich, weil man sich fragt, ist das Foto gut, oder gefällt es dir nur deshalb, weil es jemanden abbildet, der dir nahesteht?

CHLADA: Hier nun dieser Stuhl mit Brille (S. 86). Ist das so ’ne Art Ready-made?

GÜNTHER: Nein, das ist erstmal nur ein Stuhl mit Brille und Jackett, nichts weiter. Van Gogh hat Stühle gemalt, Gauguin hat Stühle gemahlt, die ganze Welt hat Stühle gemalt. Warum darf ich dann nicht wenigstens mal einen fotografieren? Für mich ist das ein Selbstportrait. Aber das soll jeder für sich selbst entscheiden.

CHLADA: Selbstportrait? Im Ernst jetzt, du erkennst dich wieder in ’nem bebrillten Stuhl?

GÜNTHER: Warum nicht? Es ist meine Brille, mein Stuhl und mein Ölradiator. Und ich finde, daß das allerhand über mich verrät.

CHLADA: Stimmt. Mir ist aufgefallen, daß es einige lachende Frauen in deinem Buch gibt. Wählen wir mal diese hier aus (S. 95). – Wer ist das, und wie hast du sie zum Lachen gebracht?

GÜNTHER: Eine Zigeunerin in irgendeinem Zug in Rumänien. Keine Ahnung, warum die lacht. Aber ich will mal vermuten, daß sie einfach nur nicht traurig ist.

CHLADA: Auch ohne deine Beteiligung …

GÜNTHER: Ja, auch ohne. Obwohl ich das nicht ausschließen kann. Man spricht die Leute ja an, macht irgendwelche Faxen, um die Sprachbarriere zu überwinden. Das kann schon mal belustigen. Und schafft im übrigen auch Vertrauen, das es einem ermöglicht, mehr als nur ein Foto von der betreffenden Person zu machen. Gute Schnappschüsse, wie manche das nennen, sind ja eher selten, auch bei ganz großen Fotografen. Das erfährst du aber erst, wenn du mal einen Kontaktbogen zu sehen bekommst.

CHLADA: Was hat Drehtag (S. 134/135) zu bedeuten?

GÜNTHER: Um Geld zu verdienen, habe ich immer mal wieder Standfotos bei verschiedenen Filmprojekten gemacht. Auch das Foto von der damals noch sehr jungen Kirsten Block (S. 200/201) ist bei einem dieser Anlässe entstanden; bildschöne Frau, findest du nicht? Und wie sie in die Kamera sieht! Spielt sie eine Rolle? Vertraut sie mir? Oder führt sie etwas im Schilde? Keine Ahnung. Kann nur sie selbst wissen.

CHLADA: Was war das für ein Film, lief der im Kino?

GÜNTHER: Nicht daß ich wüßte. Ich hab den fertigen Film nie gesehen.

CHLADA: Wer sind Gerhard und Helene Weber (S. 204/205 …) – Freunde von Dir?

GÜNTHER: Nein, das war ein deutscher Schriftsteller, der seit vielen Jahren mit seiner Frau in Paris lebte. Ein Freund von mir machte ein Buch mit ihm und bat mich, ihn zu porträtieren. Ich besuchte ihn ein- oder zweimal. Überall in der Wohnung hingen Originale von Picasso, Matisse, Miró und diesen Leuten an den Wänden. Er hatte sie alle gekannt, aber auf einen war er nicht so gut zu sprechen: Miró.

CHLADA: Hat er dir gesagt, warum?

GÜNTHER: Ja.

CHLADA: Und?

GÜNTHER: Nichts und. Er hat es mir erzählt, und ich hab’ ihm versprochen, es für mich zu behalten.

CHLADA: O.k., muß ich akzeptieren. Aber laß uns noch mal kurz auf Brasilien zu sprechen kommen. Als erstes interessiert mich: Was sind das hier für Leute? (S. 260).

GÜNTHER: Amerikanische Ornithologen. Die fuhren die Transpantaneira19, die ja nicht sehr breit ist und ziemlich holperig, in einem klimatisierten Reisebus ab. Dann und wann hielt der Bus, und sie sprangen raus, als würden sie zu Jack Nicholsons Truppe in Einer flog über das Kuckucksnest gehören. Dann standen sie da in ihren bunten Klamotten, starrten in die Wipfel der Bäume, lauschten dem Geschrei, Gezwitscher und Gezeter ringsum und verschwanden in einer großen, rotbraunen Wolke, die sich auf die Blätter des Dschungels legte. Ganz seltsam. Ganz bizarr. Wie ein Spuk.

CHLADA: Du hast an anderer Stelle gesagt, du informierst dich nicht groß über die Länder, die du bereist. Gewisse Vorstellungen, davon gehe ich jetzt mal stark aus, mußt du doch aber gehabt haben. Ich war noch nicht in Brasilien, will da aber gerne mal hin. Und dann denke ich, Scheiße, das ist ein verdammt langer Flug, und ich fliege weiß Gott nicht gerne. Ich denke natürlich an Fußball und die gewaltige Armut, die dort herrscht, an Vogelspinnen, Strandparties, gute Musik, Positivismus und Malaria. Was hast du vorab mit Brasilien verbunden, was dachtest du, erwartet dich dort?

GÜNTHER: Frauen.

CHLADA: Ja, und? Waren da welche?

GÜNTHER: (lacht) Mehr als ich nach Wochen im Busch verkraften konnte … Du mußt wissen, allein in Manaus kamen damals zehn Frauen auf einen Mann. Da wird schon der Berufsverkehr zur Peep-Show. Aber wenn ich sage, daß ich mich nicht groß über ein Land informiere, das ich bereise, meine ich, daß das, was mich interessiert, eh in keinem Reiseführer steht.

CHLADA: Zum Beispiel?

GÜNTHER: Das andere, die dunklen Ecken, die Kneipen, in denen die Leute ihr Mittag essen. Der Alltag. Die Gerüche hinter den Fassaden. Darüber hinaus ziehe ich es vor, mir eine gut gelegene Bar zu suchen, mich mit dem Barkeeper bekannt zu machen und die Stadt an mir vorüberziehen zu lassen, anstatt von einer Touristenfalle in die nächste zu tappen. Als ich kürzlich in Kairo war, um meine Tochter zu besuchen, die dort lebt, wollte sie mir unbedingt die Pyramiden zeigen, weil das nun mal dazugehört. Aber als ich dann da war, fühlte ich mich unwohl zwischen all den Touristen und den Kindern und Jugendlichen, die neugierig an mir herumzupften. Zurück im Taxi sagte meine Tochter: „Papa, du hältst den Rekord. Kürzer als du war hier noch niemand.“ Was vermutlich stimmt. Denn ich fragte mich ehrlich, was ich da zu suchen hatte. Tote Steine, zu einem gigantischen Gebäude aufgehäuft. Na und? Was mich tatsächlich interessiert hätte, wären die Geschichten derer gewesen, die Tag für Tag daran gearbeitet haben. Die Pyramiden selbst sind doch nicht interessanter als ein Polizeirevier in der Provinz.

CHLADA: O.k. Und nun der Überfall in Manaus. Was war da?

GÜNTHER: Nichts Besonderes. Ich hatte Ärger mit einer Frau, weil ich am nächsten Tag den Amazonas runterschippern wollte, grob gesagt in Richtung Heimat, und sie ließ mich dafür bluten, indem sie mit ihren Freiern, einem nach dem anderen – ich erinnere mich noch an einen ganz besonders fetten Spanier – an der Bar vorbeilief, in der ich saß und mich mit Caipirinha abfüllte, bis ich genug gesehen hatte und mich auf den Weg in eine Gegend machte, in der ein weißer Ausländer wie ich schon gar nicht nachts etwas zu suchen hat. – Ich hab das überlebt. Ich hab vieles überlebt. Und deshalb gibt es dieses Buch.