MEHR WAR NICHT DRIN
74 Gedichte
Verlag Peter Engstler 2013
Paperback, 128 Seiten
Nirgends ist man sicher
Die Fäuste in die
Hüften gestemmt stand
sie da.
Sie sind doch der
Schriftsteller von ganz
oben!
Schriftsteller?
Ja. Ich hör
sie immer lachen!
Mich?
Ja! Durch ihre
Tür, wenn ich da
oben wische.
Kann eigentlich
nicht sein. Ich hab seit
Jahren nicht gelacht.
Sie beugt sich über
ihren Eimer; wringt den
Scheuerlappen aus,
kommt wieder
hoch und tippt mir mit
dem nassen Zeigefinger an
die Brust.
Ich weiß, daß
Sie das sind. Ich wette,
Sie lachen über
ihren eigenen Mist!
Abseits
Während die Jungs sich
gegenseitig auf die Schultern klopften,
lachten und sich dreckige
Witze erzählten, saß ich allein an
meinem Tisch ganz hinten an der Wand.
Ich gehörte nicht dazu. Ich war
zwar täglich da, aber irgend etwas
fehlte mir, was
die anderen besaßen.
Während ich mein
Bier trank, sah ich ihnen zu.
Es waren nette Jungs, so
schien es mir, aus dem
Reichsbahnausbesserungswerk,
NARVA oder irgendeiner
anderen Klitsche,
und sie hatten sogar Frauen.
Während ich allein an
meinem Tisch saß und versuchte
auszusehen, als machte mir
das gar nichts aus.
Geschenk vom Chef
Sie waren unten am Regale-
zusammenbauen, als der Chef
mal kurz vorbeisah:
Hört mal her, Jungs: Die Palme
in meinem Büro wird
immer größer und nimmt mir das ganze Licht.
Kann die einer von euch beiden
brauchen?
Ich nicht, Chef, sagte Arno.
Ich schon! sagte Mike.
Ich steh nämlich auf Palmen!
Ok. Dann kommt nach
Feierabend hoch und holt sie bei
mir ab.
Der Chef ging weg. Auf dem
Nachhauseweg kamen
sie an einem Sperrmüllcontainer vorbei.
Mike fuhr an die Seite, stopfte die Pflanze da rein,
und stieg wieder in den alten Kombi.
Was soll der Scheiß?
fragte Arno. Ich denke, du stehst
auf Palmen?!
Red keinen Stuß, Mann, sagte Mike.
Ich bin pleite. Und ich wollte das Arschloch
nicht verärgern, bevor ich meine Kohle
in der Tasche hab.
Verschüttet, 1945
Sie zogen ihn unter
den Trümmern
seines Hauses hervor.
Er lebte, aber
er war nicht mehr
dasselbe Kind.
Er wuchs auf, wurde
ein Baum von
einem Kerl und brüllte wie
am Spieß.
Alle hatten Angst
vor ihm.
Nur seine Mutter,
ein winziges
Frauchen, konnte
ihn besänftigen.
Wenn sie die
Straße runterkamen,
stoben alle
auseinander.
Die Furcht vor
seiner schieren Größe
fuhr einem in die
Knochen, und erst das Gebrüll …
Als würde er
vom Krieg erzählen.
Es kommt, wie es kommen muß
Ich brauche ein Hemd.
Stopfe die Parkuhr und gehe
da rein.
Überall Menschen,
die sich über Wühltische
beugen, verstopfte
Rolltreppen, hektische Verkäuferinnen,
Schilder mit
der Aufschrift: SSV
Ich dreh mich
um und gehe zurück zu
meinem Wagen.
Schließe die Tür auf, steige
ein, starte den Motor …
Werde ich auch
eines Tages an Wühltischen
stehen und mich mit
älteren Damen um ein Paar
herabgesetzte
Wintersocken balgen?
Ich fahre los. Setze
den Blinker, biege ab, überhole
einen Streifenwagen und
denke: Wenns hart
auf hart kommt, schon.
Egal, was man schon durchgemacht hat:
vor manchen Weibern hat man trotzdem Schiß
Mein Gesicht war ein
angeschwollener, tiefroter Klumpen.
Aber ich konnte nicht die ganze
Zeit im Bett herumliegen, also stand ich auf,
setzte mich draußen in den Flur
und erschreckte die anderen Patienten.
Hast du das gesehen?
hörte ich sie im Vorbeigehen
tuscheln. Du meine Güte,
hoffentlich seh ich nach meiner OP nicht
auch so aus …
Ich saß da und streckte
die Beine von mir. Ich fühlte mich
eigentlich recht gut, nur daß
ich meinen Kopf nicht spürte. Auf einmal
stand die Oberschwester neben mir.
Sie sollten eigentlich
im Bett sein, Herr Günther.
Warum? Ich fühl
mich wunderbar hier draußen.
Aber Sie erschrecken
die anderen Patienten!
Dann schicken
Sie die doch ins Bett!
Sie sah mich drohend an,
und ihr Gesicht war jetzt so rot
wie meins. Dann
klingelte ein Telefon.
Als ich sie nicht mehr sprechen hörte,
stand ich auf und ging wieder
ins Bett.
EVP 1,25 M
Ich war jung
und Friedrichshain
war grau.
Nur über den
Geschäften
hier und da gabs etwas Neonlicht.
Und man
verdiente nicht viel,
aber die Regale
waren nie
ganz leer, und man konnte gut
von Tütensuppen
leben; Schrippen gab es
zu nem Sechser, das Bier für 45 Pfennige –
wenn man das Glück hatte, nach 8
noch einen freien Platz
in seinem
Stammlokal zu finden.
Heute ist hier
alles bunt und jung.
Die Alten sind verschwunden,
die Kriegsversehrten
lange tot.
Wohin man
blickt
zufriedene Gesichter
glattgeschliffener
Nullen.
So wie man sich das
wünscht, wenn
man das Sagen hat.
Die Tätowierte
Sie hatte vier Jahre
abgesessen, und nun kam sie
zum ersten Mal
hier rein und setzte
sich an meinen Tisch.
Ich hab mich erst gar
nicht reingetraut,
erzählte sie mir. Ihr Kerle
denkt doch immer gleich
sonstwas, wenn eine Frau alleine
in die Kneipe geht …
Sie sah auch aus wie
vier Jahre Knast,
aber das verschwieg ich
ihr – ich sah vielleicht
nicht so schlimm
aus wie sie, aber ich hatte
es genauso nötig.
Die Kneipe schloß,
und sie nahm mich mit zu sich
nach Hause. Es gab kein
Licht, aber der
Gaskocher funktionierte.
Wir aßen einen Teller
Tütensuppe, stiegen ins
Bett und fickten, bis das trübe
Morgenlicht zu uns ins
Zimmer fiel.
Als sie sich aufsetzte,
um mal aufs Klo zu
gehen, sah ich ihre Tätowierung.
Es war ein großes, lieblos
hingehacktes Kreuz.
Und unter diesem Kreuz
stand: Mama. Und neben Mama
stand: vazeih.