LESEPROBE

Florian Günther

TASCHENBILLARD

 

Mit einem Nachwort von Peter Wawerzinek

Edition Lükk Nösens 1993

83 Seiten, Französische Bindung 13 x 20 cm

 

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Inge

 

Sie war zweifellos noch sehr

attraktiv

mit ihren 48 Jahren.

 

Ich kannte Frauen,

die zwanzig Jahre jünger waren

und nicht halb so viel

hergaben wie sie.

 

Sie vertrug mehr.

Sie schiß auf ihre Figur,

und sie scherte sich einen Dreck darum,

was man über sie redete.

 

Sie hatte das alles schon hinter sich.

Es gab nichts mehr zu beweisen.

 

Und gerade das muß uns wohl

so scharf gemacht haben.

 

Denn immer, wenn sie die Kneipe betrat,

wurde es still.

Und wenn sie wieder ging,

wollte jeder von uns mal was

mit ihr gehabt haben.

 

 

Z.

 

Er war neunzehn,

schwammig

und hatte dieselbe Farbe

wie das Eisbein,

das der Kellner gerade

vorbeitrug,

als ich und ein alter Kumpel – ein

Künstler, wie sie jetzt alle

von ihm behaupten –

im Speiselokal Frankfurter Tor

saßen und die Preise

für ein halbwegs genießbares

Mittagessen verglichen.

 

Wir waren knapp bei Kasse.

Und der Vergleich mit dem Eisbein

stammt von meinem Künstlerkumpel;

aber ich kann mich noch gut daran erinnern,

wie einer der Bullen zu mir sagte:

Herr Z. ist tot … Wahrscheinlich Suizid!

Und an diesen Bruchteil

einer Sekunde,

in dem ich glaubte,

mir würden die Beine wegknicken …

 

Ich war siebzehn.

Und damals war das noch was

Besonderes.

 

 

Ein Grund mehr

 

Nun, ich lag im Bett

und dachte an diesen Araber,

dem sie hier neulich

den Schädel eingeschlagen hatten,

nachdem die Bar schräg rüber

um die Ecke

schon hundert Meter hinter ihm lag.

Das Blut

auf dem luftigen sommerhimmelblauen

Kleid der Brünetten

von hinterm Tresen,

ihren Haarbüschel

in den Händen eines Typen,

der wirkte,

als hätte man ihm verboten,

je anders auszusehen als ein Säugling,

und die nervöse kitzlige Stimme

der Besitzerin,

während sie den Bullen klarmachte,

daß Birgit eigentlich unschuldig war

und das die Jungs nur zugeschlagen hätten,

weil der Schwarze da immer so

zu ihr rübergeschielt hatte

und daß ja eigentlich nichts passiert wäre,

wenn der zu Hause vor der Glotze gesessen

und sich die Live-Show im Ersten

angesehen hätte –

sie müsse ja schließlich arbeiten.

Ich lag da und rauchte,

und dann stand ich auf,

um auf den Balkon zu gehen,

frische Luft zu tanken

und runter auf die Straße zu sehen.

Es nieselte.

Und als ich hochsah

und da oben nur vollgepumpte Watte hing,

wußte ich,

daß ich nochmal runtergehen mußte,

um mir was zu trinken

zu besorgen.

 

 

Juhnkes Bierbar

 

Wir saßen zu viert an einem Tisch:

Zwei durchschnittlich gebaute Typen,

die Fernseher reparierten,

Opa, schon ziemlich hinüber –

die Krücken neben sich

an die Tischkante gelehnt, und ich,

mit ziemlich viel Pussy im Schädel.

 

Die Jungs aus der Fernsehbude redeten

von Farbe und Antennen.

Ich dachte an Strümpfe und Opa

schlief fast, als er wieder davon anfing,

wie er seine Frau begraben hatte und daß

er erst mit dem Bürgermeister reden mußte,

weil Totengräber

nur Fremde begraben durften und alles

so verzwickt war.

 

Er hatte nur noch zwei Tränen

für diese Story, und eine davon

fiel direkt in sein Bier.

Die Jungs fanden das komisch,

und als der Kellner dann mal wieder

in unserer Nähe war,

rief ihm der eine hinterher:

 

Meesta!

Mach doch dem alten Knaben hier

nochmal n Schnaps,

bevor du ihn abrechnest.

 

 

Schlechte Aussichten

 

S-Bahn, Richtung Hohenschönhausen.

Der Geruch von Erbrochenem.

Asche auf der Jacke.

Jachten und kleine weiße Boote

mit rot-grün gestreiften Segeln

im Kopf.

Und gegenüber

ein Junge,

der mit Batmanpuppen spielt,

die sich gegenseitig erschießen.

Hast dus mal mit Messern probiert?,

frage ich ihn.

Nee, sagt er.

Aber wenn meine Mutti mir erlauben würde,

eins zu haben,

würde ich besoffnen Stinkern wie dir

den Wanst aufschlitzen.

 

 

Beweise

 

Ich sehe ihn noch vor mir,

ihren zartrosaroten Hintern,

wenn sie sich vorbeugte,

um nach der Flasche Kirsch

zu greifen.

Ihre feuchten Lippen,

als sie mich fragte:

Willstu auch nochn Schluck?

Ihr aufgestecktes Haar – blond,

wie Bienenhonig.

Ihre spitzen, rotlackierten

Fingernägel.

Und ich frage mich,

jetzt, wo ich mal wieder

die Zeitung aufschlage:

War sie nicht vielleicht auch dabei?

Immerhin,

sie lag mit mir im Bett,

während draußen 16.000.000 Revolutionäre

durch die Straßen donnerten – alle

in der ersten Reihe.

Und sie wollte nie ausreisen …

Hatte was gegen Löwenthal

und fand von Schnitzler lustig.

Und nochmal:

Dieser magische

zartrosarote Arsch,

der eindeutig

nach allem griff,

was ihm zwischen die Backen kam

und ein Beweis für alles zu sein schien.

Ja.

Je mehr ich darüber nachdenke,

um so klarer wird mir,

daß sie dabeigewesen sein muß.

Denn als sie die Mauer öffneten,

sagte sie:

 

Nun sieh dir bloß diesen beknackten

Mob an.

Die tun ja gerade so,

als hätten sie jahrzehntelang

nichts zu fressen gekriegt.